Deutschland glänzt zum EM-Start, beim Auftakt-Erfolg gegen die Schweiz klappt beim DHB-Team schon vieles wie geplant. Mit einer Sache ist Bundestrainer Alfred Gislason aber noch überhaupt nicht zufrieden.

Eine Analyse
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Spätestens nach dem furiosen 27:14-Sieg zum EM-Start gegen die Schweiz ist ganz Deutschland im Handball-Fieber! Mit dem Weltrekord-Spiel vor mehr als 53.000 Zuschauern in Düsseldorf gelang dem Team von Bundestrainer Alfred Gislason ein Auftakt nach Mass.

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Die Euphorie ist gross, sowohl bei den Fans als auch innerhalb der Mannschaft. Auch Gislason war mit dem Grossteil des Gezeigten mehr als zufrieden, komplett ohne Kritik war der Isländer allerdings nicht.

Am Sonntag geht es in Berlin gegen Aussenseiter Nordmazedonien. Mit einem Sieg könnte Deutschland bereits den Einzug in die Hauptrunde klarmachen – das Minimalziel wäre damit erreicht. Was vor dem Duell beim DHB-Team schon besonders gut ist – und was noch besser werden muss: ein Überblick.

DHB-Leistungsträger liefern direkt ab

Torhüter Andreas Wolff, Spielmacher Juri Knorr und Abwehr-Chef Johannes Golla gehören zu den wichtigsten Säulen in Gislasons Kader. Viel Eingewöhnungszeit brauchten die DHB-Leistungsträger nicht gegen die Schweiz – alle lieferten direkt ab.

Während Kapitän Golla hinten die Abwehr zusammenhielt und Knorr mit sechs Toren bester Werfer war, wuchs Wolff im Eröffnungsspiel über sich hinaus. 61 Prozent aller Würfe auf sein Tor konnte der 32-Jährige gegen die Schweiz parieren. Ab 40 Prozent spricht man im Normalfall von Weltklasse. Eine Zahl also, die eindrücklich zeigt, wie stark Wolff in der ersten EM-Partie war. Völlig zu Recht wurde er anschliessend als Spieler des Spiels ausgezeichnet.

"Ich wusste, dass er gut ist, aber das heute war von einem anderen Stern", schwärmte Knorr nach dem Sieg und bemühte für den Auftritt des DHB-Torwarts die Superlative "unglaublich, unfassbar, einzigartig". Und auch Rune Dahmke wirkte etwas ungläubig, als er die Leistung des deutschen Rückhalts beschreiben sollte: "Was er da macht, verstehe ich sowieso nicht", sagte der Linksaussen und verpasste Wolff daraufhin den neuen Spitznamen "Andi, die Wand".

Dieselbe Wortwahl nutzte auch Trainer Gislason, der an seinem Keeper, der nach einem Bandscheibenvorfall erst im November sein Comeback feierte, nichts zu meckern hatte: "Andi ist natürlich in so einer Form wie heute kaum zu überwinden, er war wie eine Wand da hinten", sagte der teilweise etwas kühl wirkende Isländer diesmal strahlend.

Jeder Spieler im breiten Kader nutzt seine Chance

Doch nicht nur die Leistungsträger lieferten ab. Alle 16 Spieler, die Gislason für den Auftakt in den Kader berufen hatte, bekamen ihre Chance – und nutzten diese auch.

Vor allem in der zweiten Hälfte bekamen die Nachwuchsspieler um die Turnier-Debütanten Justus Fischer, David Späth, Renars Uscins und Martin Hanne mehr Spielzeit. Fischer glänzte am Kreis mit einer hundertprozentigen Torausbeute, und auch Uscins und Hanne zeigten eine solide Leistung. Als Wolff schliesslich ausgewechselt und von den Fans im Stadion mit Sprechchören gefeiert wurde, kam auch Torhüter Späth zu seinen ersten EM-Minuten. Der U21-Weltmeister fügte sich nahtlos ein und sorgte mit seinen Paraden ebenfalls dafür, dass die Schweizer letztlich nur 14 Tore erzielten.

Anders als in den letzten Tests gegen Portugal gab es keinen Leistungseinbruch, als Gislason durchwechselte. "Wir haben auf sehr hohem Niveau gespielt. Es gab keinen Bruch. Das war ein Schritt nach vorne, von der Spielweise und der Konzentration über die gesamten 60 Minuten", resümierte der Trainer nach dem Spiel. "Es war das erste Mal seit der WM im Vorjahr, dass wir konstant ein Spiel durchziehen."

Die enorme Breite im Kader hilft dem Bundestrainer bei seinen Plänen. Bis auf Christoph Steinert, Uscins und die beiden Torhüter trafen alle deutschen Spieler. Das macht das Team für die kommenden Gegner unberechenbarer – jeder DHB-Profi ist gefährlich, jeder kann im Zweifel ein Tor erzielen.

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Gislason hat damit quasi die Qual der Wahl, keiner seiner Spieler muss im Normalfall 60 Minuten durchspielen. "Ich habe mehr Vertrauen und weiss, dass ich den ein oder anderen ohne Bedenken reinschmeissen kann", sagt der DHB-Trainer dazu. Dass der gesamte Spieltagskader gegen die Schweiz zum Einsatz und "in den Flow" kam, sei "optimal", sagte Golla.

Der EM-Auftakt hat gezeigt: Vor allem die Youngster um Fischer, Hanne und Co. könnten im weiteren Turnierverlauf noch zu Gislasons Assen im Ärmel werden.

Deutschland glänzt vor allem in der Defensive

Nur 14 Gegentore sprechen eine klare Sprache. Noch nie zuvor hatte eine deutsche Handball-Nationalmannschaft bei einem EM-Spiel weniger Tore kassiert. Neben dem glänzend aufgelegten Wolff war dafür vor allem die stark aufspielende Deckung verantwortlich. "Seien wir ehrlich, es ist einfach, Bälle zu halten, wenn die Abwehr so gut spielt", sagte Wolff im Anschluss lobend an seine Vordermänner und erklärte weiter: "Die Jungs haben hier wirklich sehr couragiert von Anfang an gestanden und mir das Spiel als Torhüter versüsst."

Vor allem der Innenblock mit Golla und Julian Köster brachte die Schweizer ein ums andere Mal zum Verzweifeln. Für die Nati-Spieler war das deutsche Bollwerk die meiste Zeit über nicht zu überwinden.

Doch nicht nur in der geordneten Defensive war das DHB-Team stark, auch in der Rückwärtsbewegung nach Ballverlusten überzeugten die Spieler. Viele schnelle Angriffe der Schweizer konnten rechtzeitig unterbunden werden, weil ein deutscher Spieler entscheidend eingriff. Auch Gislason war zufrieden und lobte neben der starken Abwehr auch das konsequente Rückzugsverhalten seiner Spieler.

Rekord-Kulisse in Düsseldorf: Von Druck keine Spur

Über 53.000 Zuschauer im extra fürs Eröffnungsspiel umgebauten Düsseldorfer Fussballstadion – das sorgte für einen Weltrekord. Viel wurde im Vorfeld darüber spekuliert, ob die deutsche Mannschaft zuhause diesem immensen Druck standhalten kann.

Der Auftakt hat gezeigt: Sie kann. Mehr noch: Die Atmosphäre in der Halle beflügelte die Spieler förmlich – Knorr, Köster und Co. spielten sich in einen Rausch. "Ich denke, die Deutschen haben Bock auf das Turnier und werden uns nach vorn peitschen", sagte Köster nach dem Spiel, der sowohl im Angriff als auch in der Abwehr überzeugte.

Von Druck also keine Spur, die DHB-Profis sind topmotiviert und wollen mit den Fans im Rücken einiges beim Turnier erreichen: "Ziel ist ganz klar: Europameister werden. Wer antritt und nicht Europameister werden möchte, hat seinen Beruf verfehlt", hatte Wolff bereits im Vorfeld der EM selbstbewusst erklärt.

Wie motiviert die Mannschaft ist, zeigte sie auch beim Spiel gegen die Schweiz. Selbst in der zweiten Hälfte, als die Partie eigentlich schon lange entschieden war, gaben die Spieler mit vielen Tempogegenstössen und schnellen Vorstössen weiter Vollgas. Natürlich auch angestachelt von den Tausenden Deutschland-Fans auf der Tribüne. "Das ging durch Mark und Bein. Das werde ich nie vergessen. Das gibt's wirklich nur in Deutschland und das macht Bock auf mehr", sagte Dahmke nach dem Spiel zur Stimmung in Düsseldorf. Und Spielmacher Knorr ergänzte: "Das war unglaublich und gewaltig für jeden von uns. Ich bin super dankbar und glücklich, dabei gewesen zu sein."

Das Angriffsspiel ist ausbaufähig – vor allem in einer Situation

Während Gislason in der Defensive wenig bis nichts zu meckern hatte, läuft im Angriff noch nicht alles nach Plan. "Wir haben einige Chancen liegengelassen. Das müssen wir besser machen, um in den engen Spielen mit der nötigen Sicherheit agieren zu können", sagte Golla. Neben den frei vergebenen Torchancen – unter anderem bei Gegenstössen – leistete sich das DHB-Team in der Offensive auch mehrere technische Fehler, die zu Ballverlusten führten. Ballverluste, die in knapp verlaufenden Spielen über Sieg oder Niederlage entscheiden können.

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Vor allem eine Situation im Angriff ärgerte Gislason: das Überzahlspiel der deutschen Mannschaft. "Das ist schrecklich", stellte der Bundestrainer unmissverständlich klar.

Dennoch ist die Mannschaft auf dem richtigen Weg, der Sieg zum EM-Start war laut Gislason "ein sehr guter Schritt nach vorne". Den nächsten muss das Team nun am Sonntag gegen Nordmazedonien machen. Damit das deutsche Handball-Fieber weiter anhält.

Verwendete Quellen

  • Mit Material von dpa und sid
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