Die deutschen Handballer haben bei der Heim-EM eine Medaille verpasst, dazu auch die direkte Olympia-Qualifikation. Ex-Weltmeister Johannes Bitter erklärt im Interview mit unserer Redaktion, warum man trotzdem zufrieden sein kann, welches Potenzial die deutsche Mannschaft hat, wie es mit Bundestrainer Alfred Gislason weitergehen sollte und wie wichtig das Olympia-Qualiturnier ist.

Ein Interview

Johannes Bitter, nach Platz vier waren die deutschen Handballer zunächst arg enttäuscht. Wie ordnen Sie die EM ein?

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Johannes Bitter: Ich glaube, dass man das realistisch einordnen muss. Platz vier hätte vorher wahrscheinlich jeder unterschrieben. Grundsätzlich ist der Abstand nach oben da. Der ist aber vielleicht gar nicht so gross, wie man teilweise hätte denken können, sodass dieser vierte Platz sehr realistisch und das Maximum ist, das man im Moment erreichen kann. Wir stehen zu Recht dort.

Immer wieder wird auch die Bilanz angeführt, mit vier Siegen, vier Niederlagen und einem Remis. Überragend ist die nicht, oder kommt es da auf den zweiten Blick an?

Der zweite Blick ist sehr wichtig, weil man sich anschauen muss, gegen wen man gespielt hat, wie wichtig diese Spiele waren. Das muss man auch da wieder richtig einordnen. Wir haben gegen Frankreich ein gutes Spiel gemacht, wir haben gegen Dänemark über weite Strecken ein überragendes Spiel gemacht und wir haben gegen Schweden auch nochmal eine tolle Mannschaftsleistung gezeigt. Das sollte hängenbleiben: Dass man gegen diese Top-Mannschaft immer knapp verloren hat. Das allerdings auch konstant.

Deutsches Team hat viele Fans

Kann man denn jetzt am Ende unter dem Strich, so wie es gelaufen ist, zufrieden sein? Im Spiel um Platz drei wäre mit einer besseren Chancenverwertung vermutlich mehr drin gewesen …

Von totaler Zufriedenheit kann man sicher nicht reden. Das ist jetzt so kurz nach dem Turnier nicht möglich, da muss ein bisschen Luft dran, das muss man ein paar Tage sacken lassen. Dann wird man insgesamt mit dem Erreichten leben und auch zu grossen Teilen zufrieden sein können. Aber man hat natürlich nichts in der Hand, man hat keine Medaille, man hat die Olympia-Quali noch nicht geschafft. Man hat aber ganz viele andere Mehrwerte schaffen können. Mit vollen Hallen und den TV-Übertragungen mit den hohen Zuschauerzahlen. Das sind alles Dinge, die die Jungs erreicht haben und die den Handball nachhaltig stärken. Und das wäre so nicht passiert, wenn man nicht an diesem finalen Wochenende dabei gewesen wäre.

Im TV waren im Schnitt rund acht Millionen Zuschauer dabei. Was sagt das über den Status Quo des deutschen Handballs aus?

Es zeigt, dass wir den Januar immer wieder für den Handball nutzen müssen. Dass wir eine grosse Fanbase haben, die gerade die Nationalmannschaft verfolgt. Und die auch erkennt, dass das nahbare Typen sind. Das schätzen die Menschen. Ich will jetzt nicht gegen den Fussball reden, aber ich finde, die Mannschaft zeigt sich als sehr gutes Beispiel für Fannähe. Ich spüre, dass es eine sehr hohe Identifikation mit dieser Mannschaft gibt. Das sind Dinge, die für den Sport, für die Weiterentwicklung oder für den Erhalt des Status Quo, die zweite grosse Sportart in Deutschland hinter Fussball zu sein, wahnsinnig wichtig sind.

Worauf kommt es an, um das in die Liga, aber auch in den Verband, in die Weiterentwicklung zu tragen?

Da kann man viele Ansätze suchen und finden. Es geht natürlich erstmal darum, dass man hoffentlich viele Kinder erreicht hat, damit diese in die Hallen kommen und das alles sehr nah erleben können. Das ist eine Sache, die man anschieben muss. Da wurde im Vorfeld schon einiges vorbereitet. Und natürlich ist es auch wichtig, mit der Mannschaft den nächsten Schritt zu gehen. Aber trotzdem muss man auch realistisch sein: Man wird den ganzen Hype nicht in die Bundesliga übertragen können.

Wer hat Sie vom deutschen Team positiv überrascht?

Andi Wolff ist brutal stark aus der Verletzung zurückgekommen. Julian Köster hat ein überragendes Turnier gespielt. Dafür, dass er fast durchspielen musste in allen Spielen. Dazu auch Renars Uscins. Es gibt viele, die man eigentlich nennen müsste, aber die drei sind auf jeden Fall aufgefallen.

Gibt es auch Spieler, von denen Sie sich mehr erwartet haben?

Es gibt keinen, der komplett rausgefallen ist. Timo Kastening hat aber nicht wahnsinnig viele Chancen bekommen. Er war zwischendurch krank und nach rechts aussen gab es wenig Bälle. Dadurch konnte er nur wenig glänzen.

Juri Knorr als Teil des All-Star-Teams

Wie sehen Sie das Turnier von Juri Knorr? Bei ihm gab es oft unterschiedliche Bewertungen. Er ist ins All-Star-Team gewählt worden, er stand aber auch oft in der Kritik.

Er ist erst 23 Jahre alt, das vergisst man oft. Er hat alle Qualitäten, aber er hat noch nicht diese Sicherheit, dies jeden zweiten Tag auf allerhöchstem Niveau über 60 Minuten abrufen zu können. Das muss man ihm einfach zugestehen. Und da muss man schauen, wie man Möglichkeiten schafft, dass dieses Besondere, das sein Spiel ausmacht, auch wirken kann. Indem er Pausen bekommt, indem er auch mal ein bisschen zur Ruhe kommt und Sachen von draussen analysieren kann und nicht immer nur brennen muss. Und dann wird er auch wieder mehr Selbstzufriedenheit ausstrahlen.

Er hatte während des Turniers auch mal die Kritiker kritisiert, dass medial zu viele Dinge zu negativ berichtet wurden. Sehen Sie das auch so?

Die Kritik war in der Sache nicht unberechtigt. Es wurde ein bisschen aufgebauscht. Und sowas kommt natürlich immer in der Mannschaft an. Das führt dann dazu, dass man das in der Mannschaft, auch wenn man es in der Sache vielleicht sogar teilt, mit so einer Wucht abbekommt, dass es nicht gerade positiv ankommt. Aber solche Sachen passieren. Da muss man sich auch abarbeiten können, und das können alle auch vertragen. Bei ihm war es eben sehr geballt.

Welche Baustellen gibt es noch, in welchen Bereichen muss sich das deutsche Team verbessern?

In der Abwehr waren wir besser als die Platzierung. Der Weg nach vorne war manchmal noch ein bisschen hakelig. Das Positionsspiel kann variabler werden. Auch dadurch, dass man Spielern mehr Pausen geben kann. Und dass man dann, wenn vielleicht ein, zwei Leute aus Verletzungen zurückkommen, Belastungen besser verteilt. Und klar, bei 7 gegen 6 scheiden sich die Geister. Die Dänen haben es vorgemacht, sie sind damit gegen uns erfolgreich gewesen, sind damit ins Finale eingezogen. Das spielen wir bisher sehr, sehr selten. Das könnte sicherlich auch eine taktische Variante sein, die man noch draufpackt.

Warum scheiden sich daran die Geister?

Das ist eine Sache, die sich über die Jahre entwickelt hat und die mit dem Urhandballspiel, das in Gleichzahl gespielt wird, wenig zu tun hat. Man sieht es bei den Dänen, die dann teilweise einen abwartenden Handball mit schnellen Pässen spielen. Man kann durchaus die Meinung vertreten, dass es das spielerische Handwerk ein bisschen kaputt macht.

Es wurde immer davon gesprochen, dass noch etwas fehlt zur Weltspitze. Wie viel ist das?

Der Abstand betrug in allen Spielen drei Tore. Aber wie viel ist das dann am Ende? Sind das fünf Prozent? Sind das 20 Prozent? Das kann ich nicht sagen. Man kann nur sagen, dass man jetzt ein grosses Pfund in der Hand hat. Die Spieler haben unglaublich viel gelernt, haben ganz viel Erfahrung gesammelt. Bei der Heim-EM noch mehr als sonst, weil noch viel mehr auf die Jungs eingeprasselt ist, sodass wir beim nächsten Turnier eigentlich schon wieder mit einer deutlich stärkeren Mannschaft dastehen können. Und wenn man auf die nächsten Turniere schaut, ist immer damit zu rechnen, dass wir einen Schritt weiter nach vorne machen. Ich sehe ein Potenzial, dass, wenn wir zehn, 15 Prozent draufpacken, allein durch Sicherheit, durch mehr Kraft, weil wir mehr auf das gleiche Niveau wechseln, wir in den nächsten ein, zwei Jahren auch die grossen Teams angreifen können.

Junge Spieler sind Zukunft des deutschen Handballs

Was braucht es abseits des Kaders, um den deutschen Handball weiter voranzubringen? Was sind da für Entscheidungen nötig?

Mutige Entscheidungen. Dass man den Weg mit den jungen Talenten weitergeht, auch in der Bundesliga. Es geht darum, diese Mannschaft zu stärken, und dass alle, die nachrücken könnten, ausreichend Spielpraxis bekommen.

Wie optimistisch sind Sie, dass diese Lücke geschlossen werden kann, 2027 kommt ja die Heim-WM.

Ich bin realistisch optimistisch. Wir werden 2027 nicht plötzlich ein Niveau erreichen, das deutlich vor den Franzosen, den Dänen oder Schweden ist. Diese Mannschaften können sich ja auch noch weiterentwickeln. Ich glaube aber, dass wir noch viel Nachholpotenzial haben, oder eine schnelle Entwicklung voranschieben können, weil Leistungsträger bei uns noch sehr jung sind. Das kann durch gute Massnahmen, Trainingstage, die gut genutzt werden, hoffentlich wenig Verletzungen und viel Zusammensein passieren. Aber auch durch die Erkenntnis aus dem Turnier, dass die anderen uns erstmal schlagen müssen, wenn wir alles reinwerfen.

Alfred Gislason hat den Job als Bundestrainer 2020 übernommen. Wie sehen Sie die Entwicklung der Mannschaft in dieser Zeit?

Es war total volatil von den Platzierungen her und auch, was drumherum mit Corona passiert ist. Deswegen ist vieles für mich schwer zu bewerten. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass er der Mannschaft guttut, dass er die Mannschaft auch weiterentwickeln will. Dass das alles nicht so schnell geht wie in einem Verein, weil man einfach nicht die Zeit hat, ist klar. Das hat ihn selbst am allermeisten gewurmt. Aber er hat gezeigt, dass er mutige Entscheidungen trifft, auch junge Leute einzubauen. Deshalb glaube ich auch, dass er der Trainer sein kann, der in den nächsten Jahren mit dieser Mannschaft weiter Erfolg hat.

Sein Vertrag läuft aus: Sie gehen also davon aus, dass der verlängert wird?

Ich kann mir schwer vorstellen, dass jetzt ein Schnitt kommt, weil man dann in einigen Bereichen auch wieder bei null beginnt. Und ich glaube auch, dass Alfred eine Persönlichkeit ist, die ganz viel von der Mannschaft fernhält. Er hat ganz breite Schultern, steht für die Mannschaft ein und nimmt so auch Druck ihr. Natürlich weiss man nie, wie intern bewertet wird. Aber ich vermute, dass der Vertrag verlängert wird.

Die nächste Aufgabe ist Mitte März die Olympia-Quali. Gilt dabei das Motto "Scheitern verboten"?

Olympia zu verpassen, wäre schon ein grosser Schlag. "Scheitern verboten" klingt ein bisschen nach Weltuntergang. Man darf sich jetzt auch nicht zu viel Druck machen. Aber klar: Es ist eine wirklich schwere, herausfordernde Aufgabe. Und Olympische Spiele ohne die deutschen Handballer wäre schon in der Aussendarstellung fatal. Das würde viele Dinge, die jetzt angeschoben wurden, abwürgen.

Die Gegner sind Kroatien, Österreich und Algerien. Zwei Tickets gibt es. Ein Spaziergang wird das nicht.

Kroatien und Deutschland sind sicherlich auf Augenhöhe. Das wird ein 50:50-Spiel. Österreich hat bei der EM ein Stück weit über den eigenen Möglichkeiten gespielt. Dass man dieses Spiel gewinnt, wird sicher der Knackpunkt sein. Algerien haben wir schon mal gehabt. Das haben wir am Ende gut gelöst. Das wird trotzdem insgesamt eine hammerharte Aufgabe.

Über den Gesprächspartner:

  • Der ehemalige Nationaltorhüter (175 Länderspiele) Johannes "Jogi" Bitter wurde mit dem DHB-Team 2007 Weltmeister, mit 41 Jahren ist er aktuell weiterhin in der Bundesliga für den HSV Hamburg aktiv. Bei der EM war er als Co-Kommentator für die ARD im Einsatz.
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