Owen Ansah ist das jüngste prominente Sportler-Opfer von Hate Speech in den sozialen Medien. Rassismus, Hass und Beleidigungen haben teilweise eine neue Qualität erreicht, doch es tut sich endlich was. Allerdings rennen die Verantwortlichen dem Problem ein Stück weit hinterher.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Owen Ansah schaltete auf Durchzug. Rassistische Kommentare? Häme? Hass? Den schnellsten Deutschen der Geschichte interessiert das nicht. "Null Prozent", wie er dem NDR sagte. "Das geht ins eine Ohr rein und aus dem anderen Ohr raus. Ich habe meine Freunde und Familie bei mir und meine Leute, die mich supporten. Natürlich gibt es auch immer Hater, aber das beschäftigt mich gar nicht." Als wären rassistische Anfeindungen gegen den Leichtathleten nicht schon schlimm genug, erlebte er sie, nachdem er als erster deutscher Sprinter unter der Marke von zehn Sekunden blieb, die 100 Meter in 9,99 Sekunden lief.

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Eine historische Leistung als Anlass für Hass und Häme. "Solche Kommentare spornen mich in jedem Fall an, genauso weiterzumachen. Sie zeigen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich bekomme jetzt die Aufmerksamkeit, die wir alle verdient haben", sagte Ansah zwar. Doch das muss man erst einmal sacken lassen: Der 23-Jährige musste sich nach dem Rekordlauf Fragen wie "Deutscher?" oder andere rassistische Kommentare gefallen lassen, nachdem er einen grossen Erfolg gefeiert hat.

Hate-Speech: Leider keine Überraschung mehr

Irre? Ja, aber leider nicht einmal mehr eine Ausnahme. Ein grosses Echo erzeugten zum Beispiel auch die U17-Junioren des Deutschen Fussball-Bundes (DFB), die im vergangenen Jahr Weltmeister wurden und in den sozialen Medien eine ähnliche Ablehnung erlebten. "Als Forscher haben wir schon andere Fälle erlebt. Wenn wir das reflektieren, überrascht es einen leider gar nicht mehr", sagt Dr. Daniel Nölleke vom Institut für Kommunikations- und Medienforschung an der Sporthochschule Köln im Gespräch mit unserer Redaktion. "Trotzdem ist das eine Katastrophe. Es macht auch hilflos. Es erschüttert und genau mit dieser Hilflosigkeit, so ist mein Eindruck, spielen diese Hater in gewisser Weise."

Denn die Frage nach dem Grund, nach dem Auslöser für diesen Hass, kann nicht annähernd nachvollziehbar beantwortet werden. "Ob nun positives oder negatives Ergebnis: Es ist ein Auslöser für Personen, ihre Emotionen in die Welt rauszukotzen. Vielleicht sind es auch Minderwertigkeitsgefühle. Dass man sagt: 'Ich fühle mich aber jetzt von einem schwarzen Läufer nicht repräsentiert, das ist nicht mein Deutschland.' Und das ist ziemlich armselig", sagt Kriminologin Dr. Thaya Vester im Gespräch mit unserer Redaktion.

Für Nölleke ist es vor allem die Chance, die sich den Hatern bietet, mit diesem Hass eine exponierte Person zu treffen und so auch Aufmerksamkeit zu erregen. "Was dazu führt, dass diese Gelegenheiten genutzt werden, um den Schund abzuladen", so Nölleke. Interessant dabei: Forschungserkenntnisse legen nahe, dass in dem Zusammenhang nicht die Anonymität des Internets eine Rolle spielt, sondern eine Gruppendynamik, ein Gruppengefühl, das (vermeintlichen) Schutz bietet, denn diese Menschen posten oft unter Klarnamen. "Man hat das Gefühl, in der Masse als Individuum keine wirkliche Rolle zu spielen", so Nölleke. "Und es ist schlicht erstaunlich, zu was sich Menschen, die klar identifizierbar sind, hinreissen lasen."

Das Schlimme: Je öfter so etwas passiert, desto "normaler", desto alltäglicher wirkt es. "Weshalb so etwas nicht folgenlos bleiben darf", sagt Vester. "Denn genau dadurch wird es zu einer Normalität. Alle sind einmal kurz entsetzt. Und danach geht es wieder weiter. Das muss man unbedingt durchbrechen." Denn sonst gewöhnen sich sogar die Sportler daran, nehmen es irgendwann achselzuckernd hin. "Und das ist tatsächlich sehr problematisch", so Vester.

Hass im Netz schwer zu messen

Neben einer sich anbahnenden Normalität ist der Umfang ein weiterer Punkt. Beide Forscher sind sich einig, dass der Hass im Netz nicht weniger, sondern wahrscheinlicher sogar eher mehr geworden ist, auch wenn das schwer zu messen ist. Sowieso ist jeder Fall einer zu viel. "Doch der Handlungsdruck wurde zuletzt immer grösser, und es wird inzwischen mehr dagegen getan. Und dadurch wird es zumindest ein bisschen eingedämmt", so Vester.

Denn es gibt nicht nur schlechte Nachrichten im Dunstkreis des Hate Speech im Netz. Als Konsequenz aus den rassistischen Beleidigungen gegen Ansah kooperiert der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) künftig mit der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Ziel der Zusammenarbeit sei es, die Urheber strafbarer Postings im Netz zu identifizieren, "damit diese sich gegenüber der Justiz für ihre Äusserungen verantworten müssen", teilte der DLV mit.

Im Mai hatten der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der DFB und die DFL bereits bekanntgegeben, dass auch sie eng mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren und konsequent Strafanzeigen erstatten, wenn gewalttätige, rassistische oder diskriminierende Sprache verwendet wird. Zuvor hatten auch der Bayerische Fussball-Verband und der Berliner Fussball-Verband ähnliche Kooperationen gestartet.

KI-basierte Lösung für Olympia-Athleten

"Unser Strafrecht sieht für Beleidigungen, Bedrohungen und Volksverhetzungen im Netz empfindliche Strafen vor, um Opfer vor solchen Postings zu schützen", sagte Oberstaatsanwalt Dr. Benjamin Krause, Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main, Abteilung Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, laut der DFB-Mitteilung. "Dieser Schutz gilt auch für Sportlerinnen und Sportler, die für Deutschland antreten und in der Öffentlichkeit stehen. Wir wollen als Staatsanwälte unseren Beitrag dazu leisten, dass die Urheber strafbarer Postings identifiziert werden und sich für ihre Taten gegenüber der Justiz verantworten müssen. Denn in einem Rechtsstaat ist das Internet kein strafverfolgungsfreier Raum." Für die Erleichterung der Strafverfolgung fordern die Verbände, dass dies in Zukunft auch ohne ausdrücklichen Strafantrag durch den Sportler möglich ist. Für Politiker gilt das bereits.

Ein aktuelles Beispiel, wie Sportlern geholfen werden soll: Olympia-Athleten bekommen vom DOSB eine KI-basierte Lösung angeboten, die Angriffe gegen ihre Social-Media-Kanäle herausfiltert und die Möglichkeit bietet, schwere Verstösse an die ZIT zu melden und gezielt Anzeige zu erstatten. Die Olympischen Spiele in Paris, die am 26. Juli beginnen, bieten wieder eine breite Angriffsfläche für Hate Speech.

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Hasskommentare bei der EM

Das hat bereits die zurückliegende Fussball-EM gezeigt. Während der Gruppenphase hatte die Europäische Fussball-Union (Uefa) 4.656 Beiträge in den sozialen Medien mit beleidigenden, rassistischen oder homophoben Inhalten überprüfen lassen. 71 Prozent dieser "missbräuchlichen Beiträge wurden von den Plattformen verfolgt", teilte die Uefa mit. So enthielten rund 94 Prozent der Beiträge allgemeine Beleidigungen, 4,5 Prozent rassistische und 1,5 Prozent homophobe Beschimpfungen. Überwiegend richten sich die Kommentare gegen Spieler (74 Prozent).

Eine weitere gute Nachricht: Auch die Forschung beschäftigt sich intensiv mit dem Thema, an der Sporthochschule Köln ist unter der Leitung von Nölleke ein Projekt zu "Online-Hass im Leistungssport" gestartet, um Wissen zu den (Wirk-)Mechanismen und Strukturen von Hate Speech im Sport und den Perspektiven der Sportler auf diese Anfeindungen zu sammeln. "Man merkt, dass das Problem immer stärker wahrgenommen wird. Ich habe den Eindruck, dass es mit einer Ernsthaftigkeit angegangen wird, die enorm ist, nur auch mit einer gewissen Art von Hilflosigkeit, weil man sich wirklich fragt: 'Wie kann man die Leute davor schützen?'", so Nölleke.

Doch vieles ist inzwischen zumindest in Bewegung gekommen. "Die Frage ist nur: Warum erst jetzt und warum noch nicht überall?", so Vester. "Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Denn man merkt, dass man den technischen Entwicklungen und Fortschritten und damit dem Problem so ein bisschen hinterherläuft und die Lösungen suchen muss." Weil auch die Plattformen immer noch bremsen, nicht oder zu langsam löschen oder an einer Strafverfolgung wenig Interesse haben. Hier soll das neue EU-Digitalgesetz "Digital Services Act" helfen, um Beiträge schneller löschen zu lassen und so den Hass intensiver bekämpfen zu können. Dazu gibt es zahlreiche Anlaufstellen, vom Bundesprogramm "Demokratie leben!" geförderte Projekte oder Organisationen wie "Hate Aid".

Zivilcourage zeigen

Wichtig wäre es in dem Zusammenhang, dass eine Art Zivilcourage gezeigt wird. Dass andere Menschen eine Gegenrede starten, um den Hatern die verbale Stirn zu bieten. Damit sie als zahlenmässig sowieso grössere Gruppe auch lauter sind als diejenigen, die den Hass säen wollen. "Wenn die alle schreiben würden, dass sie es überhaupt nicht so sehen und machen das in der gleichen Intensität, dann würde der Hass auch gar nicht so ins Gewicht fallen. Aber es passiert leider nicht", so Vester.

Eine weitere Möglichkeit, die Sportler auch schon genutzt haben: Hasskommentare veröffentlichen und die Verfasser so an den Internet-Pranger stellen. Auch wenn der Sportler dadurch den Fokus verstärkt auf das Negative lenkt. "Es ist aber auch wichtig, den Leuten zurückzumelden, dass es nicht in Ordnung ist und dass es auch Konsequenzen hat. Und das kann unter anderem dadurch passieren, dass man dann eben auch diese Öffentlichkeit herstellt", so Vester.

Und Nölleke glaubt, dass es den Verfasser "erschüttern kann, wenn er selbst eine Öffentlichkeit bekommt". Ob man damit diese Welle des Hasses stoppen könne, sei die Frage, so Nölleke, "denn dafür ist, fürchte ich, diese Gesellschaft leider in Teilen zu böse". Weshalb der schwierige Kampf gegen den Hass im Netz nur gemeinsam geführt werden kann. Denn längst nicht alle sind so stark und resilient, dass sie wie Owen Ansah auf Durchzug schalten können.

Über die Experten

  • Dr. Thaya Vester ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Ausserdem ist sie Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" sowie der DFB-Expert*innengruppe "Fair Play – gegen Gewalt und Diskriminierung".
  • Dr. Daniel Nölleke ist als Juniorprofessor für "Sportjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit" an der Deutschen Sporthochschule in Köln am Institut für Kommunikations- und Medienforschung tätig

Verwendete Quellen:

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