Am Freitag, 07. Juni, haben in Rom die Leichtathletik-Europameisterschaften begonnen. Auch die Olympischen Spiele stehen in diesem Sommer noch an. Wo steht die deutsche Leichtathletik?
Wir haben uns mit dem früheren Zehnkämpfer
Herr Busemann, am Freitag startet die Leichtathletik-EM in Rom. Wie ist Ihre Stimmung im Vorfeld?
Frank Busemann: Wunderbar. Denn die Europameisterschaften werden besser als erwartet, glaube ich. Sowohl aus internationaler Sicht, weil es im Olympia-Jahr immer so eine Sache ist mit der Teilnahme an der EM, aber fast alle Athleten da sind. Und aus deutscher Sicht sind sowieso alle da und deswegen freue ich mich richtig drauf.
Was erwarten oder erhoffen Sie sich aus deutscher Sicht?
Das Ergebnis der EM in München werden wir nicht toppen können. Das war ein Selbstläufer für uns. Das werden die Italiener jetzt machen mit dem Publikum im Rücken. Aber zehn bis zwölf Medaillen sollten für uns herausspringen. Dann kann man eigentlich mit einer ganz guten Motivation und Euphorie in die Olympischen Spiele gehen, obwohl das natürlich wieder etwas ganz anderes werden wird. Das ist nochmal eine grössere Herausforderung.
Wie realistisch muss man die EM dann im Hinblick auf Olympia einschätzen?
Wir wissen: Selbst wenn wir zum Beispiel 15 Medaillen holen sollten, kann es global ganz schnell auf null gehen. Da sollte man die Euphorie mitnehmen, sich aber auch nicht in die Tasche lügen. Wenn es jetzt gut läuft in Rom, sollte man trotzdem keine überbordenden Erwartungen an die Athleten stellen und für Paris die Hälfte der Medaillen fordern. Da muss man zudem auch immer von Disziplin zu Disziplin schauen, ob man das auch auf Paris projizieren kann.
Wie essenziell kann die EM werden für Olympia, sowohl als Mutmacher, aber auch als Dämpfer?
Als Mutmacher kann sie auf jeden Fall dienen, denn wenn es gut läuft, denkt man, dass man gut in der Spur ist. Wenn es aber nicht so gut läuft, dann muss man ganz schnell Ursachenforschung betreiben. Dann gibt es die Hälfte der Athleten, die sagt: "So, jetzt erst recht, so ein Mist passiert nicht nochmal." Und die andere Hälfte der Athleten sagt: "Oh verdammt, warum hat das nicht funktioniert?" Und da muss man als Trainer oder Psychologe gut zureden und den Athleten den Rücken stärken, die Stärken herausstellen und Überzeugung verbreiten.
WM-Desaster 2023
Sie haben nach dem WM-Desaster im vergangenen Jahr harsche Kritik an der deutschen Leichtathletik und an den generellen Strukturen geübt. Wie war denn das Feedback der Verantwortlichen und Sportler darauf?
Ich habe gedacht, dass die mir jetzt alle den Kopf abreissen. Die Funktionäre haben ein bisschen Sorge, denn Kritik hört man nie gerne. Aber viele haben auch gesagt: "Endlich spricht es mal einer aus." Und das hat mich eher überrascht, denn mit Kritik umzugehen, ist nicht so einfach. Das zeigt das Dilemma, dass viele Athleten wollen, aber teilweise gar nicht die Rahmenbedingungen dafür vorfinden. Das macht die Sache dann für alle Beteiligten nicht gerade einfacher. Aber es hat mich gefreut, dass eine Diskussion angestossen wurde und dass darüber nachgedacht wird. Aber das Ergebnis mit null Medaillen war auch historisch schlecht. Wir müssen uns fragen, warum wir keine Athleten haben, die Medaillen gewinnen. Ein vierter Platz in Paris wäre sensationell geil für den einen oder anderen. Aber wir schauen auf den Medaillenspiegel, und da ist Botswana dann vor uns.
Warum sind andere Länder, von denen man das jetzt nicht unbedingt erwarten würde, deutlich vor uns?
Das versuchen wir seit Jahren zu ergründen. Nehmen Sie die Niederlande, Schweiz, Norwegen – Länder mit weniger Einwohnern finden trotzdem die talentierten Jugendlichen, die wiederum den Weg zur Leichtathletik finden. Und dann werden die vom Verband so weit nach vorne gebracht und gefördert, dass die ihre Medaillen holen. Das könnte eine Blaupause für uns sein. Dass wir schauen, wo wir Leistungszentren haben, wo wir die Besten zusammenziehen. Dass sie zusammen trainieren können, dass sie voneinander profitieren, dass Wissen geteilt wird. Und dass ihnen finanziell unter die Arme gegriffen wird, damit sie eine finanzielle Sicherheit haben. Da muss man viele kleine Hebel in Bewegung setzen, damit das Gesamtbild stimmt.
Sie haben bei der Kritik kein Blatt vor den Mund genommen. Sie haben zum Beispiel gesagt, man schaffe Leistung ab, gesellschaftlich müsse sich etwas ändern. War die WM denn in irgendeiner Hinsicht ein Weckruf, hat sich etwas getan?
Ja, auf jeden Fall. Denn man kann die Augen nicht mehr verschliessen. Wir müssen jetzt was ändern. Denn wenn etwas geändert wird, braucht das seine Zeit. Das sehen wir bei allen Olympia-Nationen. Wir können nicht sagen, weil letztes Jahr kacke war, ändern wir ein bisschen, und zwölf Monate später gehen wir da ganz anders rein. Das ist nicht der Fall. Wir haben jetzt aber ein paar hoffnungsvolle junge Athleten dabei, die Potenzial zeigen, die vielleicht in drei Jahren oben ankommen könnten, die jetzt schon an der Spitze schnuppern. Max Dehning ist ein super Beispiel. Die 90 Meter im Speerwurf wird er wohl erstmal nicht wiederholen können. Aber er hat gezeigt, dass er es kann. Und da müssen wir schauen, wie wir ihn unterstützen und begleiten, damit er dann regelmässig in den Bereich wirft.
Sie hatten zudem moniert, Sport habe keine Wertigkeit mehr. Warum ist das so?
Wir haben zu viele Ablenkungen, zu viele Möglichkeiten, um uns zu verwirklichen, zu viele Entschuldigungen. Es gibt für jedes Problem eine Entschuldigung oder eine Erklärung, warum was nicht funktioniert hat. Keiner sagt mal: "Das tut verdammt weh, ich ziehe es aber trotzdem durch."
Erfolg passiert nicht aus Versehen, ist niemals Zufall. Erfolg muss man sich hart erarbeiten. Und das müssen wir in die Köpfe reinbekommen. Dass das immer mit viel Arbeit und Aufwand verbunden ist und dann aber eine überdurchschnittliche Leistung auch exponentiell belohnt werden muss und darf. Das ist in den USA anders. Dieses Bewusstsein, dieses Verständnis muss bei uns auch wieder ankommen: dass sich Leistung lohnt.
Ist die Gesellschaft zu verweichlicht geworden in der Hinsicht?
Man haut heutzutage zum Beispiel gerne auf die Generation Z drauf. Die ticken einfach anders. Ich habe mich zuletzt mit einem Kollegen unterhalten, über Schmerzen, über das Ertragen, über das über Grenzen gehen, über das Dahin-gehen-wo-es-weh-tut. Da haben wir als Athleten der 1990er-Jahre einen ähnlichen Ansatz. Und er monierte, dass seine Athleten nicht mehr dahin wollen, wo es wehtut, und dass er deshalb ein bisschen fassungslos ist. Und er sagte, Leistungssport sei kein Heititeiti, das tue weh, und genau da müsse man hin. Allen, die im Leistungssport, die in Rom, die in Paris am Start sind, halte ich zugute, dass sie schon ein bisschen auf Schmerz stehen, sonst würden sie den Käse nicht machen. Denn da gibt durchaus Freizeitbeschäftigungen, die ein bisschen geschmeidiger sind. Aber wir müssen die finden, die diesen entscheidenden Schritt gehen wollen.
Wechselbeziehung zwischen Anspannung und Entspannung
Was muss passieren, damit sich da etwas ändert?
Es fängt damit an, dass, wenn Kinder auf ein Klettergerüst klettern, keiner mehr schreit: "Pass auf, dass du dir nicht weh tust." Stattdessen wird einmal gepustet, wenn sie herunterfallen, und weiter geht es. Ich habe drei Kinder, ich zähle mich auch dazu, ich bin genauso. Früher sind wir sechs Meter hoch in die Bäume geklettert und haben irgendwelche Baumbuden gebaut. Da standen die Eltern nicht bei uns und haben gesagt, dass es gefährlich ist. Aber es ist mittlerweile leider so, dass man immer aufpasst, dass die Kinder sich nicht wehtun. Da müsste man ansetzen, um ein Umdenken herbeizuführen.
Viele Kinder sehen aber auch, wie sich ihre Eltern mit der Arbeit aufreiben, sodass sie das selbst nicht erleben wollen. Da ein gesundes Mittelmass zu finden, ist wichtig. Dieser Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, dass man für sich erkennt, dass man nur etwas leisten kann, wenn ich da hingehe, wo es wehtut, aber eben auch nur da hingehen kann, wenn ich gut erholt bin. Diese Wechselbeziehung zwischen Anspannung und Entspannung ist wichtig. Und das müssen wir lernen, um es effektiv zu betreiben.
Was müsste strukturell und auch finanziell passieren?
Arbeit muss immer höher gewichtet sein als Nichtstun. Im Sport ist es so, dass Leistung bezahlt wird, aber der Weg zur Leistung hin wird oft stiefmütterlich behandelt. Die Athleten, die oben angekommen sind, können sich gut finanzieren, aber diesen Weg zu beschreiten, ist in Deutschland oftmals Glückssache. Da gibt es zwei Paradebeispiele.
Wie langfristig wäre so ein Turnaround angelegt?
Der dauert ein, zwei Generationen und kostet dazu auch noch Milliarden. Das muss erstmal wieder in die Köpfe rein, und ich weiss nicht, wie das passieren soll. Uns geht es unfassbar gut, das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen. Ich habe aber manchmal so den Eindruck, dass wir uns darauf ausruhen, dass es uns so gut geht. Es passiert so viel Scheisse in der Welt und wir haben das unfassbare Glück, dass wir demokratisch wählen dürfen, dass wir unsere Meinung sagen dürfen, dass wir auch auf Schwächere Acht geben. Das ist ja eine Errungenschaft, die gibt es ganz selten auf dieser Welt. Und da müssen wir dankbar sein, müssen diese Werte aber eben auch mit allem, was wir zur Verfügung haben, verteidigen.
2028: Wieder unter den Top-5-Nationen
Wie sehen Sie die deutsche Leichtathletik aktuell im weltweiten Vergleich aufgestellt?
Wir werden das Ruder nicht herumreissen und uns auf einmal in die 1990er-Jahre zurückversetzt fühlen. Es wird im Moment immer ein bisschen schlechter. Wir müssen schauen, dass wir auf einem halbwegs guten Niveau stagnieren können. Soll heissen: Wenn wir global kontinuierlich zwei, drei Medaillen gewinnen, dann wäre das ein guter Anspruch. 2028 wollen wir wieder zu den Top-5-Nationen der Welt gehören. Das muss ein Verband auch als Ziel ausgeben, wenn er von Platz drei kommt. Es wäre doof, wenn man den Verfall verwalten möchte. Aber dafür müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Und das braucht eben Zeit, Geld und Einsatz.
Wie lange dauert es, um die deutsche Leichtathletik auf ein neues Niveau zu heben?
Wir müssen diejenigen finden, die jetzt mit elf, zwölf Jahren überlegen, was sie für eine Sportart machen wollen. Und die müssen wir an die Leichtathletik binden. Und dabei hilft eine EM ebenso wie Olympia. Wenn dort positive Signale gesetzt werden, müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, dass Zwölfjährige sagen: "Wow, Zehnkampf ist geil, das will ich auch machen. Wo gibt's den nächsten Verein?" Und dann muss es Möglichkeiten geben, dass sie Sport oder Leichtathletik machen können. Denn das ist manchmal gar nicht so einfach.
Wie wichtig ist dann vor allem Olympia in Paris mit der besonderen Strahlkraft?
Genau deshalb wäre Olympia in Deutschland so grossartig, weil es ein Umdenken erzeugen würde. Mein Lieblingsbeispiel: 2019 komme ich von den Weltmeisterschaften in Doha nach Hause, Niklas Kaul ist Weltmeister geworden und meine drei Zehnkämpfer-Kinder spielen Zehnkampf im Keller und streiten sich, wer Niklas Kaul sein darf. Da wollte keiner der Vater sein, nein, die wollten Niklas Kaul sein. Und das zeigt: Die Erfolge von diesen Typen, die wir immer fordern, haben eine wichtige Vorbildfunktion.
Wer kann die Helden-Rolle übernehmen in der Leichtathletik?
Wir brauchen diese Helden. Malaika Mihambo ist seit Jahren mit Leistung, mit Persönlichkeit und wirklich tollem Engagement dabei. Wir brauchen eben jetzt darüber hinaus noch neue Gesichter. Leo Neugebauer findet bisher in der breiten Öffentlichkeit noch nicht grossartig statt, weil er in den USA unterwegs ist. Er könnte in Paris die Bühne nutzen, um in der breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt zu werden. Er hat eine mitreissende Art, da kommen Story und Leistung zusammen. Das muss er für sich nutzen, dann kann Paris für ihn ein Gamechanger werden.
Was glauben Sie, was ist medaillentechnisch bei Olympia drin?
Ich schiesse mich immer auf zwei, drei Medaillen ein. Weitsprung Frauen, Kugelstossen Frauen, Zehnkampf und Speerwurf Männer. Das sind die offensichtlichen Medaillen-Chancen. Wobei dann immer die Frage ist, ob eine Chance gleichzusetzen ist mit einer sicheren Medaille. Und dann gibt es auch immer Überraschungen, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte.
Ich hatte Sie eingangs gefragt, wie Ihre Stimmung vor der EM ist. Wie ist denn Ihr Gefühl für Olympia? Auch im Hinblick auf die WM im vergangenen Jahr?
Das muss ich auch mal betonen: Die WM im vergangenen Jahr war aus Sicht der Mannschaft eine gute Leistung. Weil nur zwei oder drei Athleten eine schlechte Leistung gebracht haben. Die anderen haben alle ihre Leistung gebracht. Und darum geht es mir immer: Bringen sie zum Saisonhöhepunkt ihre beste Leistung? Das haben ganz, ganz viele geschafft. Und deshalb kann man der Mannschaft in dem Sinne keinen Vorwurf machen, obwohl wir medaillentechnisch historisch schlecht abgeschnitten haben.
Doch bei Olympia ist das Niveau, mit dem wir uns konfrontiert sehen, exorbitant. Es kann alles passieren in beide Richtungen. Ich habe trotzdem ein ganz gutes Gefühl, weil wir ein paar junge Athleten dabei haben, die Potenzial besitzen. Es gibt Etablierte, die eine Medaille gewinnen wollen. Das muss im Grunde ja auch der Anspruch sein. Wer Grosses erreichen will, der muss grosse Ziele haben.
Über den Gesprächspartner:
- Frank Busemann hat als Zehnkämpfer 1996 in Atlanta Silber geholt, ein Jahr später bei der WM in Athen Bronze. Im Sommer 2003 trat er zurück.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.