Er ist 15 Jahre jünger als sein Vorgänger. Im Laufsport ein deutlicher Altersunterschied. Es sollte daher eigentlich klar sein, dass ein 23 Jahre alter Läufer die 42,195 Kilometer eines Marathons schneller zurücklegt als ein bald 39-jähriger. Dem war bis dato aber nicht so.
Lange hielt der 38 Jahre alte kenianische Ausnahmeläufer Eluid Kipchoge den Weltrekord auf der Königsdisziplin im Langstreckenlauf. Verbesserte ihn sogar im vergangenen Jahr in Berlin auf seiner Lieblingsstecke auf fabelhafte 2:01:09 Stunden. Die Fachwelt dachte: Nur Kipchoge selbst kann diese Zeit noch weiter drücken. Zumal der zweifache Olympiasieger unter Laborbedingungen – künstlicher Windschatten, wechselnde Tempomacher – bereits unter zwei Stunden (1:59:40 Stunden) gelaufen ist, das war 2019 in Wien.
Seit Sonntag ist er den Weltrekord im Marathon aber überraschend los – vorerst. Der Kenianer Kelvin Kiptum (23) hat am Sonntag beim Chicago-Marathon eine neue Rekordzeit von 2:00:35 Stunden aufgestellt. Er lag damit mehr als eine halbe Minute unter der bisherigen Bestmarke. In Laufkreisen fast eine halbe Ewigkeit. Kiptum ist der erste Mensch, der bei einem offiziellen Marathon unter 2:01 Stunden blieb.
"Ich bin so glücklich. Darauf war ich nicht vorbereitet. Aber ich wusste, dass ich eines Tages der Weltrekordler sein würde", erklärte er gegenüber der internationalen Presse am Sonntag. Mehrfach hatte Kiptum bereits angekündigt, Kipchoge den Weltrekord abjagen zu wollen.
Kipchoge und Kiptum: Viele Gemeinsamkeiten - aber auch Unterschiede
Dass die magische Schallmauer von zwei Stunden im Marathon bald kippen wird, ist spätestens seit dem Siegeslauf am Sonntag in der "Windy Citiy" gewiss. Die meisten trauen es nun nicht mehr Kipchoge, sondern seinem jungen Landsmann Kiptum zu. Beide trainieren in der kenianischen Hochebene pro Woche mehr als 200 Kilometer, laufen morgens und abends, ernähren sich in Wettkampfphasen von Hirse und Brei, leben asketisch. Aber es gibt auch Dinge, die sie unterscheiden.
Kiptum ist noch nicht lange im internationalen Geschäft dabei. Im März 2019, als er beim Lissabon-Halbmarathon mit 59:54 Minuten Fünfter wurde, feierte er sein Debüt in Europa. Etwa ein Jahr später stellte er inmitten der Coronavirus-Pandemie eine neue persönliche Bestzeit auf den 21,095 Kilometern auf und wurde mit 58:42 Minuten beim Valencia-Halbmarathon Sechster.
Damals lief der Kenianer Kibiwott Kandie in einer Siegeszeit von 57:32 Minuten den neuen Weltrekord und entthronte damit den damaligen Weltrekordler, seinen Landsmann Geoffrey Kamworor (58:01 Minuten). Kipchoges Bestzeit über den Halbmarathon soll im Übrigen "nur" bei 59:25 Minuten liegen.
Dass der nur 54 Kilogramm leichte Kiptum aber auch auf der Langdistanz für Furore sorgen wird, war spätestens Anfang Dezember vergangenen Jahres klar. Damals überraschte der heute 23-Jährige mit dem Sieg bei seinem Marathondebüt beim Valencia-Marathon. Valencia scheint also ein gutes Pflaster für den Kenianer zu sein.
Kiptum hat offenbar keine Trainer
Kurios und eher untypisch bei seinem Sieg im Osten Spaniens war, dass Kiptum, der angibt, ohne eigene Trainer zu arbeiten, im gesamten Jahr 2022 kein einziges internationales Resultat stehen hatte. Doch nur zwei Tage nach seinem 23. Geburtstag schockte er die gesamte Leichtathletik-Welt: Mit einer Zeit von 2:01:53 Stunden pulverisierte er den Streckenrekord um starke 67 Sekunden. Plötzlich war er neben den zwei Legenden Eliud Kipchoge und Kenenisa Bekele der einzige Läufer mit einer Marathonzeit von unter 2:02 Stunden. Was für ein Potenzial in Kiptum steckt, zeigte sich an seinen Zeiten in Valencia. Er lief zwischen Kilometer 30 und 35 die fünf Kilometer in 14 Minuten. Hätte er diese Pace beibehalten, hätte er sogar unter zwei Stunden bleiben können.
Im Frühjahr 2023 gelang ihm bei seinem zweiten Marathonstart, dieses Mal in London, der zweite grosse Triumph. Nach 1:01:40 Stunden erreichte er die Halbmarathondistanz. Niemand dachte zu diesem Zeitpunkt an eine Zeit von unter 2:02 Stunden. Doch Kiptum zündete nach 30 Kilometern den Turbo und lief die zweite Marathonhälfte in spektakulären 59:45 Minuten. Er ist damit der erste Mensch, der bei einem Marathon die zweite Hälfte in unter einer Stunde zurücklegte. Das liess die Weltelite abermals aufhorchen; Kiptum war spätestens jetzt international bekannt.
Ein gänzlich anderer Karriereverlauf als bei Kipchoge
Es gibt nur wenige erfolgreiche Läufer, die ihre Marathonkarriere nicht über Unterdistanzen aufgebaut haben, ehe sie sich vollkommen dem Marathon gewidmet haben. Kipchoge debütierte über die 42,195 Kilometer beim Hamburg-Marathon. Damals war er bereits 28 Jahre alt. Zuvor war er kürzere Distanzen gelaufen – natürlich sehr erfolgreich. 2003 gewann er etwa WM-Gold über 5.000 Meter in Paris. Etliche Rennen, auch über 10.000 Meter und Halbmarathons, kamen dazu. Kipchoge hatte also mindestens zehn Jahre lang auf der Laufbahn grosse Erfolge gefeiert und an seiner Schnelligkeit gearbeitet, bis er auf den Marathon umstieg.
Der unweit von Uganda in Kenias Norden, im Distrikt Keiyo, geborene Kelvin Kiptum geht offensichtlich einen anderen Weg. Er hat sofort den Einstieg auf Wettkämpfe ab der Halbmarathondistanz gewagt. Die Wahrscheinlichkeit ist daher hoch, prognostizieren Experten, dass Kiptum früh seinen Leistungszenit erreichen und dann abtauchen könnte. Vielleicht dann immerhin mit einer Weltrekordzeit von unter zwei Stunden.
Mit Altmeister Kipchoge ist aber noch zu rechnen. Er dürfte sich ärgern, dass ihm ein junger Athlet den Weltrekord abjagte und seine Zeit regelrecht pulverisierte. Es ist davon auszugehen, dass Kipchoge zurückschlagen wird – vielleicht schon bei den Olympischen Spielen von Paris im kommenden Jahr oder spätestens im September 2024 in Berlin.
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