Den Olympiasieg hat Thomas Röhler seit sieben Jahren in der Tasche. Er ist ihm ebenso nicht mehr zu nehmen wie der Triumph bei der Heim-EM 2018 in Berlin. Seitdem haben den Modellathleten immer wieder Verletzungen gestoppt. Auch zur WM in Budapest kann er seinen Teamkollegen und Freund Julian Weber nicht begleiten.
Im exklusiven Interview mit unserer Redaktion wird Röhlers Ehrgeiz deutlich, es nochmal zu Olympia zu schaffen. Doch
Herr Röhler, Sie haben durch Verletzungen verschiedene Grossereignisse seit Ihrem EM-Triumph 2018 in Berlin verpasst, also Olympia 2021 in Tokio und die WM 2022 in Eugene. Bei der WM 2019 in Doha und bei der EM 2022 in München sind Sie in der Qualifikation gescheitert. Wie wichtig ist in solchen Zeiten der Halt ihrer Familie für Sie?
Thomas Röhler: Wir alle haben Familie zu Covid-Zeiten nochmal anders schätzen gelernt. Ich würde das gar nicht auf meine Karrieresituation beziehen. Ich war schon immer ein Familienmensch. Sinnvoller Leistungssport ist nur möglich, wenn die Familie das Verständnis dafür mitbringt und auch für die Sache brennt. Das ist in guten Zeiten, wenn der Sport sehr reiseintensiv ist, nicht anders als in komplizierteren Zeiten.
Wie bewerten Sie Ihre momentane Situation?
Ich bin sehr positiv gestimmt. Wir verfolgen sportlich einen Plan, der funktioniert. Der Mensch ist natürlich immer ungeduldig. Ich wünsche mir den einen oder anderen Meter weiter. Aber ich habe über die Jahre eine gewisse Geduld gelernt. Ich möchte mir nicht langfristig durch Ungeduld etwas kaputtmachen. Man muss realistisch sein.
Ich übe meinen Sport nur deshalb aus, weil ich ihn gern betreibe. Der Ausgang des Projekts ist ungewiss. Ich bin aber seit einem Jahr komplett verletzungsfrei und kann schmerzfrei trainieren. Ich habe in dieser Saison die ersten Wettbewerbe bestritten. Was den Trainingsfortschritt, die Trainingsintensität und die Menge an Würfen angeht, bin ich aktuell super happy.
Haben Sie sich denn in der Vergangenheit durch Ihre Ungeduld mal geschadet?
Nein. Ich hatte im Olympiajahr nochmal alles versucht. Aber das Leben funktioniert nicht im Konjunktiv. Ich bereue keine meiner Entscheidungen.
Thomas Röhler: "Paris ist nicht das Ende meines Planes"
Am Ende Ihres Planes steht die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris.
Paris ist nicht das Ende meines Planes. Vielleicht hat sich das an vielen Stellen vor einem Jahr oder zwei Jahren mal so angehört, dass ich nochmal alles auf diese Karte setze. Mir geht es aber körperlich viel zu gut, als dass ich nur nach Paris schauen würde. Als Olympiasieger (2016 in Rio, Anm.d.Red.) reizen mich Olympische Spiele enorm. Das ist für mich die Motivation schlechthin, jeden Tag ins Training zu gehen. Ich möchte aber heute noch nicht definitiv festlegen, was nach Paris kommt.
Ihr vordergründiges Ziel ist die Olympia-Teilnahme.
Definitiv. Das war immer mein Lebensziel. Das Bonbon, Olympiasieger zu werden, habe ich mir schon erfüllt. Ich möchte das olympische Feuer wieder sehen.
Sie konnten in den vergangenen Jahren aus Verletzungsgründen nicht an jedem Wettkampf teilnehmen, den sie gerne bestritten hätten. Sie haben Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften versäumt. Was haben Ihnen diese Jahre trotzdem gegeben?
Das ist eine sehr weitreichende Frage. Man lernt in so einer Phase sehr viel. Man lernt das, was war, mehr wertzuschätzen. Wir haben in der Vergangenheit die Speerwurfnation Deutschland sehr glücklich gemacht, aber auch verwöhnt. Ich war einer der Schriftführer dieser Geschichte seit 2014. Und wenn man zehn Jahre verletzungsfrei durchkommt, dann ist es fast logisch, dass das Schicksal irgendwann bei einem selbst zuschlägt.
Ich habe die Situation annehmen müssen. Mir fällt das bis heute schwer. Denn der Ehrgeiz brennt in mir. Ich bin ein schlechter Zuschauer, was Speerwurf-Wettkämpfe angeht. Man projiziert sich selbst in die Situation hinein. Man will dabei sein. Deswegen war ich echt happy, in diesem Jahr wieder Wettkämpfe bestreiten zu können. Es ist völlig okay, dass ich noch nicht auf dem Niveau bin, das ich mir wünsche. Es geht nur um den Wettkampf, denn Wettkampf ist nicht Training.
Rein menschlich aber hat der Sport noch viel mehr Perspektiven als den aktiven Wettkampf. Ich habe mittlerweile eine grosse Community, junge Talente, die von mir lernen, inspiriert werden, die ich täglich in den sozialen Medien mitnehme. Sie nehmen aus meinem Sportlerleben inhaltlich etwas mit. Da geht es gar nicht um die Frage, wie erfolgreich ich gerade bin. Da zählt der Sportler an sich, sein Charakter und seine Geschichte. Das ist eine schöne Perspektive. In diesem Fall bin ich mehr eine Person des öffentlichen Lebens als ein aktiver Sportler.
Mir war auch in der Zeit meiner Verletzungen nie langweilig. Ich habe tagtäglich zweimal trainiert, habe mit Partnerunternehmen Projekte angeschoben, umgesetzt und ausgebaut.
Röhler über Vetter: "Situation ist für jeden Einzelnen schwierig"
Sie haben erwähnt, wie verwöhnt die Speerwurfnation Deutschland durch die erfolgreichen vergangenen Jahrzehnte sei. Ihr Landsmann und Kumpel
Jeder hat diesbezüglich ein grosses Hausaufgabenheft, an dem er sitzt und arbeitet. Die Situation ist für jeden Einzelnen schwierig. Wir haben es aber während der erfolgreichen Jahre immer wieder betont: 90 Meter zu werfen, ist etwas ganz Besonderes. Und das muss nicht für immer so bleiben. Johannes und auch ich, wir sind Athleten etwas höheren Alters (Vetter ist 30 Jahre alt, Röhler 31, Anm.d.Red.), was im Speerwerfen nicht schlimm ist. Aber der Fahrtenschreiber tickt, und je länger du den Speer wirfst, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch mal was passiert. Wir sind in einer Hochrisikosportart aktiv.
Uns sind viele Generationen, auch aus dem Grund der Perspektivlosigkeit, verloren gegangen. Da reisst gerade ein kleines Loch auf. Aber wenigstens haben wir
De facto ist er ja als Europameister Ihr Nachfolger. Sie waren es 2018 in Berlin, er wurde es 2022 in München.
Genau.
Wie sieht er seine Situation? Ihm geht ja die interne Konkurrenz bei grossen Wettkämpfen ab.
Wir haben es dieses Jahr genossen, zwei-, dreimal gemeinsam im Wettkampf zu stehen. Das hat er auch so formuliert. Ich kann das nachvollziehen. Alleine ist es stellenweise schwierig. Wir betreiben eine Individualsportart. Was aber viele vergessen: In seinem Innersten ist jeder Mensch ein soziales Wesen, das im Team Halt findet. Julian hätte sich gewünscht, in Richtung WM Begleitung zu haben.
Wie gross ist seine Medaillenchance bei der WM in Budapest?
Seine Chance ist definitiv gut. Man sollte sich bei der Bestimmung der Farbe aber im Speerwerfen nie zu weit aus dem Fenster lehnen. Es ist jedoch auch sein Anspruch, eine Medaille zu holen. Und es ist das richtige Jahr dafür. Neeraj Chopra (WM-Zweiter 2022, Anm.d.Red.) war sehr lange nicht bei Wettkämpfen. Er hat auch Verletzungsprobleme. Es passieren aktuell keine Hexendinge bei den Meetings. Ich bin guter Dinge, dass der deutsche Speerwurf mit einer Medaille nach Hause geht. Sollte ich mit meiner Aussage Julian jetzt Druck machen, dann entschuldige ich mich dafür persönlich bei ihm.
Leistungssport ist "eine extreme mentale Belastung"
Belastende Situationen können zu Depressionen führen, davon sind insbesondere Leistungssportler nicht ausgenommen. Ihr Diskus-Kollege Christoph Harting, ebenfalls 2016 in Rio Olympiasieger, berichtete unlängst von seinem Leiden. Wussten Sie davon?
Nicht direkt. Aber jeder, nicht nur im Bereich der Nationalmannschaft, wird unterschreiben, dass Leistungssport eine extreme mentale Belastung bedeutet. Wie man damit umzugehen hat, lernt man durch Erfahrung. Das Problem aber tritt auf, wenn man nicht das Glück oder den Charakter oder den Support hat, mit manchen Situationen professionell umgehen zu können. Wir stehen unter einem öffentlichen Brennglas. Dementsprechend ist es kein Wunder, wenn die mentale Gesundheit mal einen Kratzer abbekommt. Und da ist die Leichtathletik im Vergleich mit Ligasportarten noch harmlos.
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Aber wir suchen uns ja unsere Situation, in der Öffentlichkeit zu stehen, aus. Und das ist die Erklärung: Ich tue es für mich. Wenn ich Druck verspüre, dann deshalb, weil ich morgens aufgewacht bin und sage: Ich habe ein sportliches Ziel und dieses Ziel verfolge ich jetzt. Wenn man dann von aussen sehr viel an sich heranlässt, dann kann es in der Verarbeitung kompliziert werden.
Für Sie aber, das höre ich heraus, hat diese Gefahr nie bestanden.
Nein, toi, toi, toi. Aber die Gefahr ist täglich da, sie herrscht in allen Lebensbereichen. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Ich habe in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen guten Weg gefunden, mit Gutem und Schlechtem umzugehen, vor allen Dingen mit unterschiedlichsten Einflüssen.
Druck, Sie haben ihn angesprochen, ist ein gutes Stichwort. Im deutschen Schulsport gibt es die Diskussion um die Neuausrichtung der Bundesjugendspiele. Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen einem Wettbewerb und einem Wettkampf?
Ich persönlich bin ein Verfechter von Performance. Wenn wir über Leadership sprechen, wenn Menschen in unserem Land etwas voranbringen wollen, was irgendwann unsere Kinder, im kleinen wie im grossen Masse, machen werden und machen wollen, dann ist es unsere Biologie und unser Instinkt, dass wir besser sein wollen als andere. Sonst hätten wir es als Spezies Mensch überhaupt nicht bis zum heutigen Tag geschafft. Dementsprechend finde ich persönlich es völlig okay, wenn es Sieger und Verlierer gibt. Weil: Spätestens im Arbeitsleben kommt der Tag, an dem mir der Arbeitgeber sagt: "Bis hierhin und nicht weiter." Oder es war im Vorstellungsgespräch ein anderer Kandidat besser als ich. Wir tun gut daran, unsere Kinder frühzeitig, in einem spielerischen Kontext, daran heranzuführen, dass es Wettbewerb oder Wettkampf gibt.
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Halten Sie es für Aktionismus, was in dem Thema Schulsport diskutiert wird?
Man muss irgendwo anfangen. Als Mitglied des Vorstands im Landessportbund habe ich verstanden, dass Struktur sich definitiv nicht schnell bewegt. Deswegen bin ich mit dem Begriff "Aktionismus" vorsichtiger geworden, seitdem ich den tieferen Einblick in die Sportstrukturen habe. Was ich unterstreichen möchte: Mein Support gilt allen, die sportliche Früherziehung eher klassisch angehen, im Sinne der Wertfindung. Für die Lehrkräfte, Padägogen und Eltern ist es aber ein bisschen anstrengender, sich mit den Kindern auseinanderzusetzen und mit ihnen darüber zu sprechen, dass es Platz eins und Platz zwei gibt. Das ist der Punkt, den man strukturell nicht umgehen sollte.
Bundesjugendspiele: "Eine der wichtigsten Sichtungsmassnahmen"
Es geht ja auch um die Nachwuchsfrage, ob von diesen Bundesjugendspielen, bei denen es um leichtathletische Disziplinen geht, auch Kinder für die Vereine hängenbleiben.
Unbedingt. Das ist eine der wichtigsten Sichtungsmassnahmen. Wir müssen uns aktuell nur den Erfolg der Schweizer angucken. Das sind Kinder des UBS Sprint Cups, die derzeit weltweit sehr erfolgreich an Wettbewerben der Diamond League teilnehmen und um Medaillen kämpfen. Deutschland tut gut daran, eine zeitgemässe Form der Sichtung aufrechtzuerhalten und auszubauen.
Welchen Einfluss können Sie darauf persönlich nehmen, als sportliches Vorbild, aber auch als Vorstandsmitglied im Landessportbund?
Das fängt ganz klein an. Wir sind in Deutschland mit einem Vereinssystem ausgestattet. Das ist etwas ganz Wunderbares. Es muss sich aber der Gesellschaft dynamisch anpassen. Viele Vereine sind veraltet. Wir haben ein Ehrenamtsproblem. Uns fehlen extrem viele Ehrenamtliche. Das Gros der Vereine, die ich kennenlernen durfte, hängt knappe zehn Jahre hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurück. Da müssen wir anpacken. Wir aktiven Sportler können als Role Models mithelfen, als Leuchttürme. Wir können Events unterstützen, vielleicht mal eine Patenschaft übernehmen. Oder Sportler, die es nicht in die Nationalmannschaft schaffen, ihren Sport aber lieben, investieren ein paar Stunden ihres Tages in die Arbeit als Übungsleiter. Diese Momente sind es, die die Kids anspornen.
Eine technische Frage noch zum Abschluss: Sind wir bei der Entwicklung des Speeres am Ende angekommen? Der ist ja früher schon auf Weiten jenseits der 100 Meter geflogen.
Was das Regelwerk betrifft, ist die Entwicklung so gut wie abgeschlossen. Aerodynamisch, beim Design der Spitze, wurde das Regelwerk in den letzten Jahren ausgereizt. Der Speer ist von vorne bis hinten, bis zur Beschaffenheit des Lacks, durchreglementiert. Im Wettbewerb darf jeder mit seinem eigenen Speer werfen. Ich persönlich wüsste also nicht, was innerhalb des aktuellen und superfairen Regelwerks am Speer verändert werden kann.
Die bisherigen Würfe über die 100-Meter-Marke werden also auf ewig in den Rekordbüchern stehen bleiben.
Jein. Unsere Speere werden in pneumatischen Kanonen getestet. Da kommt der Speer rein, dann werden Parameter wie der Abflugwinkel und die Abwurfgeschwindigkeit eingestellt. Nichts anderes macht auch der Mensch am Ende. Aus so einer Kanone fliegt der Speer gut und gerne über 100 Meter. Das ist für die Maschine überhaupt kein Problem. Wenn es irgendwann ein Mensch mit der Technik perfekt raus hat, dann erscheint diese Weite physikalisch nicht als Problem. Die Realität aber ist aktuell weit weg davon.
Und das ist für Sie auch in Ordnung.
Das ist in Ordnung, so passt der Wurf ins Stadion rein. Schlecht wäre eine Speeränderung. Dann blicken die Fans irgendwann nicht mehr durch.
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