Jan Ullrich wirkt nervös und ein wenig unsicher, als er Anfang September auf die Bühne eines Konferenzraumes im Münchner Nobelhotel Bayerischer Hof tritt. Und daraus macht der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger auch gar kein Geheimnis. "Ich bin ein bisschen aufgeregt. Ich war schon lange nicht mehr auf einer Bühne", sagt er im Gespräch mit Moderatorin Annika Zimmermann.
Amazons Streamingservice Prime Video hat an diesem Tag Journalistinnen und Journalisten eingeladen, wenig später feiert im hoteleigenen Kinosaal der erste Teil der Dokumentation "
Doping, private Abstürze, grossartige Erfolge und bittere Niederlagen, in den vier Folgen der von Constantin produzierten Dokumentation kommen alle Höhen und Tiefen eines im positiven wie negativen Sinne extremen Lebens auf den Tisch. Ullrich berichtet von Panikattacken, er habe nicht gewusst, ob er wirklich alles an die Öffentlichkeit tragen soll.
Doch er hat es getan. Und die Entscheidung scheint richtig zu sein. Am Ende des Gesprächs im Bayerischen Hof erhält Ullrich viel Applaus, er wirkt erleichtert und gerührt zugleich. Die vierteilige Miniserie, die ab dem 28. November auf Prime Video abrufbar ist, ist eine Art Lebensbeichte des früheren Radstars. Und dabei sehr spannend, sehenswert und berührend.
Über Doping: "Wir haben getan, was zu dieser Zeit nötig war"
Selbstverständlich spielt das Thema Doping eine zentrale Rolle. Jahrelang tat sich Ullrich schwer, über Doping zu sprechen und zuzugeben, selbst gedopt zu haben. In der Dokumentation reden er, aber auch andere ehemalige Radstars wie Bjarne Riis, Richard Virenque, Ivan Basso oder
"Wir haben getan, was zu dieser Zeit nötig war. In dieser Zeit gehörte es einfach dazu, bestimmte Sachen zu machen", sagt der frühere Team-Telekom-Kapitän Riis. "Meine Karriere wäre vorbei gewesen, hätte ich es nicht gemacht", erklärt Ullrich: "Es war etwas Verbotenes, was aber irgendwie auch nicht verboten war. "
Selbst der spanische Arzt Eufemiano Fuentes, der im Zentrum des grössten Dopingskandals der Radsportgeschichte stand und die Stars behandelte, kommt zu Wort und wirkt dabei erstaunlich sympathisch. Er habe nur aus Leidenschaft gehandelt, sagt er. Und man möchte es ihm fast glauben.
Die Härten und Risiken des Radsports werden gezeigt
Um besser zu verstehen, warum die Radsportstars taten, was sie taten, blickt "Jan Ullrich – Der Gejagte" ausführlich hinter die Kulissen einer der härtesten und extremsten Sportarten der Welt. Es wird gezeigt, welche Entbehrungen nötig sind, um die Tour de France zu fahren. Es wird auch klar, welches Risiko Radprofis eingehen.
Der Tod des mit Amphetaminen vollgepumpten Tom Simpson am Anstieg zum Mont Ventoux wird thematisiert, ebenso wie der von Fabio Casartelli. Der Italiener lag nach einem fürchterlichen Sturz im Juli 1995 sterbend auf der Strasse, als das Feld vorbeirollte.
Es wird deutlich, dass Sportler, die verrückt genug sind, um sich auf nur wenigen Millimeter breiten Reifen mit 120 Kilometern pro Stunde regennasse Passstrassen herunterzustürzen, auch offener dafür sind, in anderen Bereichen über die Grenzen hinauszugehen. Dass Doping zu Thrombosen oder Niereninsuffizienzen führen kann, erschreckt Athleten, die auf jeder Abfahrt ihr Leben riskieren, weniger als den Durchschnittsmenschen.
Eine Nachricht von Pevenage an Fuentes ruft die Polizei auf den Plan
Wie sorglos der Umgang mit Dopingmitteln war, zeigt auch das Interview mit Rudy Pevenage. Der frühere sportliche Leiter des Teams Telekom (später T-Mobile) stellte den Kontakt zwischen Ullrich und Fuentes her. Weil sein anonymes Prepaid-Handy kein Guthaben mehr hatte, schickte er dem Arzt eine Nachricht von seinem privaten Telefon. Da die spanische Polizei das Telefon des Mediziners zu dieser Zeit überwachte, wurde die Verbindung zwischen Ullrich und Fuentes bekannt.
Die immer neuen Doping-Enthüllungen führten schliesslich dazu, dass Ullrich unmittelbar vor dem Start von der Tour de France 2006 ausgeschlossen und vom Team T-Mobile entlassen wurde. Der Mann, der in Deutschland einen Radsport-Boom ausgelöst hatte und auf einer Stufe mit den grössten deutschen Sportlegenden stand, wurde zum Ausgestossenen.
Die Leere in seinem Leben nach dem plötzlichen und unfreiwilligen Ende seiner Karriere begann Ullrich mit Alkohol, Drogen und Ausflügen ins Nachtleben zu füllen. Die Dokumentation erzählt die Lebensgeschichte Ullrichs von den Anfängen als sportliches Wunderkind in der DDR bis zu den Tiefpunkten der letzten Jahre. Zugedröhnt mit Whisky und Kokain randalierte er auf Mallorca im Garten seines Nachbarn Til Schweiger, im Frankfurter Bahnhofsviertel kam es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einer Escortdame.
Ullrich stellt klar: "Ja, ich habe gedopt"
Ullrichs Mutter, seine Brüder, seine Ex-Frau und langjährige Weggefährten erzählen, wie es so weit kommen konnte. Über alledem schwebt das Schicksal von Marco Pantani, der Ullrich bei der Tour 1998 bezwang und mit gerade einmal 34 Jahren an einer Überdosis Kokain starb. Auch er war auf der Suche nach dem Kick nach der grossen Karriere. Ullrich trifft sich in der Doku mit den Eltern Pantanis, was besonders berührend ist.
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Erzählt wird also auch die Geschichte eines Süchtigen, der mithilfe von Familie und Freunden die Kurve bekommen zu haben scheint. Vielleicht trägt dazu auch ein Stück weit die Dokumentation über das Leben Ullrichs bei. Denn nun muss nichts mehr verheimlicht werden, alles ist raus. "Ja, ich habe gedopt", sagte Ullrich, der im Dezember 50 Jahre alt wird, bei der Präsentation der restlichen Teile von "Jan Ullrich – Der Gejagte" Ende November so klar und deutlich wie nie zuvor.
Vielleicht kann er nun endlich mit allem abschliessen und ein glückliches Leben führen. Es wäre ihm zu wünschen.
Verwendete Quellen
- Vorabsichtungen der vier Folgen von "Jan Ullrich – Der Gejagte"
- Besuch des Presse-Events von Prime Video mit Jan Ullrich in München
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