Schach-Grossmeisterin Elisabeth Pähtz erklärt, warum der Kampf um die Schach-WM in diesem Jahr ein besonderer ist, warum Frauen beim Kampf um die Schachweltmeisterschaft keine Rolle spielen und was im deutschen Schach noch besser laufen muss.
Frau Pähtz, am 25. November beginnt in Singapur die Schach-WM zwischen dem Inder D. Gukesh und dem Titelverteidiger Ding Liren. Wen sehen Sie als Favorit?
Elisabeth Pähtz: Rein schachlich gesehen ist Ding normalerweise stärker, weil er älter ist, mehr Erfahrung hat und objektiv noch der bessere Spieler ist. Leider hat Ding aber aktuell gesundheitliche Probleme und ich bezweifle daher, dass er sie bis jetzt in den Griff bekommen hat. Deshalb würde es mich wundern, wenn Gukesh am Ende nicht Weltmeister wird.
Gukesh ist mit 18 Jahren der jüngste Teilnehmer in der Geschichte der Schach-Weltmeisterschaft. Ist ein WM-Titel in seiner Karriere damit sowieso schon vorgezeichnet?
Es gibt im Spitzenschach noch ein paar Inder in einem ähnlichen Alter, die auf seinem Level spielen können. Dazu gibt es noch fünf bis sechs Spieler, die das Zeug dazu haben, Weltmeister zu werden. Gukesh hat allerdings den Vorteil, dass er furchtloser und energischer ist, und dieser Charakter hilft im Schach natürlich. Ich bin überzeugt davon, dass er, selbst wenn er jetzt nicht gewinnen sollte, so oder so Weltmeister werden wird. Vielleicht nicht in diesem Jahr, aber dann in zwei oder drei Jahren.
Was macht Gukesh jetzt schon besser als seine meist älteren Kollegen?
Er geht mehr Risiken ein, was ganz typisch für jüngere Spieler ist, sie sind insgesamt risikobereiter als ältere Spieler. Sein Gegner Ding spielt sehr solide, dafür ist Gukesh kreativ und originell. Ähnlich wie sein Landsmann Erigajsi hat er die nahezu einzigartige Fähigkeit, in einer Partie Probleme für den Gegner zu kreieren. Zur Erklärung: Im Schach gibt es manchmal Situationen, in denen mehrere Züge gleichermassen gut sind, einige aber für den Gegner schwieriger zu handhaben sind als andere. Und wenn es um diese Züge geht, ist Gukesh Weltklasse.
Indien bringt aktuell eine ganze Reihe an jungen Spielern hervor, die in der Weltspitze mitmischen. Was wird dort anders gemacht als in anderen Ländern?
Durch Viswanathan Anand, der in den 2000er Jahren lange Zeit Weltmeister war, hat sich in Indien eine Art Hochburg des Schachs gebildet. Man könnte sogar sagen, dass Chennai aktuell die eine Art Welthauptstadt des Schachs ist, weil von dort unglaublich viele Supertalente kommen – unter anderem auch Gukesh. Dort ist Schach mittlerweile der Sport Nummer eins und wird natürlich ganz anders gefördert als in Deutschland, wo Fussball alles dominiert. Selbst der indische Präsident gratuliert regelmässig bei Erfolgen von indischen Schachspielern – schon daran zeigt sich, wie schachbegeistert das Land ist.
Ding hat mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen
Gukeshs Gegner ist der Chinese Ding Liren, der sein altes Niveau lange nicht mehr erreicht hat und wohl mit psychischen Problemen neben dem Schachbrett kämpft. Wie wichtig ist der mentale Aspekt in solchen Wettkämpfen?
Gerüchten zu Folge soll Dings Problem nicht nur die mentale Stabilität sein, sondern auch, dass er unter Depressionen leidet. Theoretisch müsste er deshalb Antidepressiva nehmen, was sich aber mit professionellen Spitzenschach nicht verträgt. Ob das stimmt, weiss ich nicht – es ist auf jeden Fall erkennbar, dass er zurzeit psychische Probleme hat. Und das ist im Schach leider noch ein grösseres Problem als bei physischen Sportarten. Ich kann nicht sagen, ob und wie man das in den Griff bekommen kann. Aber bei Ding scheint es so zu sein, dass er seit fast einem Jahr nicht in der Lage ist, seine diesbezüglichen Probleme zu lösen.
Kann man seinen Leistungsabfall innerhalb des vergangenen Jahres allein daran erklären?
Man kann sie nur dadurch erklären, sonst geht das gar nicht. Selbst wenn ich ab sofort ein Jahr nicht Schach spielen würde, könnte ich immer noch meinen Wissensstand behalten. So deutlich wie in seinem Fall baut ein Spieler normalerweise nicht ab. In den zuletzt gespielten Partien hat er Fehler gemacht, die man nur mit gesundheitlichen Problemen wirklich erklären kann.
Warum tritt er beim WM-Kampf überhaupt an?
Das Problem ist, dass er Titelverteidiger ist und den Wettkampf jetzt nicht einfach verschieben kann, weil es dazu eben auch Regularien seitens des Weltschachverbands gibt. Vielleicht hat er seine Probleme auch wieder in den Griff bekommen, wir wissen es nicht. Ding kann seinen WM-Titel nur dann verteidigen, wenn es derselbe Ding ist, der vor einem Jahr den WM-Kampf gegen Ian Nepomnjaschtschi 2023 gewonnen hat.
Wie präsent ist das Thema Psyche im Schach? Wird darüber gesprochen und gehört das zur Vorbereitung mit dazu?
Soweit ich weiss, arbeiten die indischen Spieler schon mit Psychologen und Ernährungsberatern und bereiten sich sehr professionell vor. Aber dieses Thema wird im Schach noch unterschätzt. Manche Spieler machen vor einem WM-Kampf vielleicht ein paar Monate lang Cardio oder Sport und achten auf die Ernährung. Den psychologischen Aspekt beachten aber viele noch nicht.
Zur Person
- Im November 2022 wurde Elisabeth Pähtz zur ersten Schachspielerin Deutschlands, die den Grossmeister-Titel erspielen konnte. Sie war damit die 40. Frau auf der Welt, der dies gelang. Mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft ist die gebürtige Erfurterin seit 1998 auf zahlreichen Turnieren auf der ganzen Welt unterwegs. Im März 2025 soll damit Schluss sein, denn dann will sich Pähtz nach langer Zeit endgültig vom Turnierschach zurückziehen.
Dabei macht im Spitzenschach eigentlich nur noch die mentale Komponente der Spieler den Unterschied. Vom Wissensstand sind auf diesem Level alle Spieler perfekt ausgebildet. Viele falsche Entscheidungen im Schach sind dann auf emotionaler Ebene zu erklären, weil unsere Gefühle und Ängste die Entscheidung beeinflussen. Man kann durchaus sagen, dass die Unterschiede bei den Top 10 des Schachs meistens in der mentalen Stärke liegen – mit Ausnahme von
Warum viele die Schach-WM nicht mehr als echten WM-Kampf sehen
Der langjährige Weltmeister Garry Kasparov sagt, für ihn ist die Schach-WM keine wirkliche Weltmeisterschaft, weil mit Carlsen der beste Spieler fehlt. Er ist nicht der einzige mit dieser Kritik. Wie wichtig ist die Schach-WM aktuell noch?
Objektiv gesehen hat Kasparov völlig recht. Weil Carlsen – und das kann man wirklich so sagen – einfach keine Lust mehr hat, sich bei einem WM-Kampf über Monate lang auf einen Gegner vorzubereiten und deshalb nicht antritt, ist es objektiv gesehen kein Duell der besten Spieler mehr. Klassisches Schach mit langen Bedenkzeiten ist mit einer Menge Vorbereitungsarbeit verbunden – fast mehr Arbeit, als das Match zu spielen. Carlsen liebt deshalb die Schnell- und Blitzschachturniere, weil der Grossteil der Vorbereitungszeit hier wegfällt. Ich glaube, dass er sogar bereit wäre, zurückzukehren, wenn man Schnell- und Blitzschach mehr in die WM einbezieht. Aber das ist vom Weltschachverband nicht gewollt.
Schnell- und Blitzschach haben in der Pandemie durch Online-Schach stark an Bedeutung gewonnen. Gehört diesen Formaten die Zukunft des Schachs?
Absolut, aus mehreren Gründen: Eine Schnellschachpartie dauert maximal eine Stunde, wodurch die Spieler mehrere Partien an einem Tag spielen können und sich die Turnierveranstalter viele Kosten sparen können. Es ist zuschauerfreundlicher, weil man bei einer Partie nicht 20 Minuten auf einen Zug warten muss, sondern der nächste Zug meistens innerhalb von fünf Minuten kommt. Als Kommentator bei einem WM-Kampf wartet man gerne mal 20 oder 30 Minuten, ohne dass ein Zug gespielt wird und muss das Publikum trotzdem unterhalten, im Schnellschach hat man mehr Action. Und schliesslich müssen sich die Spieler nicht so stark vorbereiten, weil sie hintereinander spielen und im Schnell- und Blitzschach die Einteilung der Bedenkzeit viel wichtiger ist als die tiefgehende Vorbereitung. Ich kann mir vorstellen, dass diese Formate immer mehr an Beliebtheit gewinnen werden.
Beim WM-Kampf 2023 zwischen Ding und Nepomjaschtschi gab es erfrischend wenige Remis im Vergleich zu den Vorjahren. Kann man das bei dieser WM wieder erwarten?
Das kommt ebenfalls ganz auf Dings Form an. Entweder er verliert haushoch, weil er seine Probleme nicht in den Griff bekommen hat, oder es wird ein enges Duell. Und wenn es ein enges Duell wird, wird es wahrscheinlich wenige Siege geben, weil Ding unglaublich solide spielen kann. In seiner Bestform lässt er nicht viele Sachen zu.
Pähtz: "Sexismus ist kein besonderes Phänomen im Schach"
Frauen, die Chancen auf den WM-Titel haben, gibt es keine, dafür spielen sie eine eigene Weltmeisterschaft aus. Warum ist das so?
Es gibt drei Gründe dafür. Zum einen sind 90 Prozent der Schachspieler Männer und nur zehn Prozent Frauen. Wäre die Quote ungefähr ausgeglichen, könnte eine Frau es vielleicht bis ins Kandidatenturnier schaffen, so ist es eher unwahrscheinlich. Zum anderen werden Frauen in den meisten Ländern weniger gut gefördert, vor allem in den Ländern, in denen Frauen noch stärker unterdrückt werden. Das ist ein wichtiger Aspekt, weil Jungen schon im Kindesalter besser gefördert werden. Und schliesslich denke ich auch, dass Männer sich evolutionär bedingt besser fokussieren können als Frauen. Gerade im Schach, wo man lange Varianten berechnen und sich vertiefen muss, haben Männer dadurch einen Vorteil. Auch das Testosteron-Level und die grössere Risikobereitschaft, die Männer im Vergleich zu Frauen haben, spielen hier eine Rolle.
Im Frauenschach gab es im vergangenen Jahr Aufruhr, weil einige Frauen dem Sport in einem offenen Brief ein Sexismus-Problem vorwarfen. Sehen Sie da ein strukturelles Problem?
Sexismus ist meiner Meinung nach kein besonderes Phänomen im Schach, sondern gibt es überall. ich glaube nicht, dass sich unser Sport da hervorhebt. Deswegen habe ich den Brief auch nicht unterschrieben, weil er im Endeffekt nichts Besonderes beschreibt. Es kam so rüber, als gäbe es im Schach ein massives Sexismus-Problem, aber das ist Blödsinn. Es ist ein alltägliches Gesellschaftsphänomen, dass leider nicht nur im Schach existiert.
Warum Pähtz sich aus der Nationalmannschaft der Frauen zurückzieht
Sie selbst waren jahrelang die Nummer eins des deutschen Frauenschachs, haben jetzt aber ihren Rückzug vom Turnierschach bekannt gegeben. Warum?
Zum einen hat es familiäre Gründe, zum anderen kostet es am Ende doch eine ganze Menge Energie und Kraft. Ich muss auch sagen: Es ist ein bisschen demotivierend, über 20 Jahre in der Nationalmannschaft zu spielen, ohne eine Chance auf eine Medaille. Gerade wenn man merkt, dass man vielleicht auch noch ein gutes Turnier spielt, wie zuletzt bei der Schach-Olympiade in Budapest. Es macht einfach irgendwann keinen Spass mehr, wenn man als Team nie eine Chance hat.
Verlassen Sie die Nationalmannschaft trotzdem mit einem guten Gefühl, was ihre Nachfolge angeht?
Es ist gemischt. Wir hatten in Deutschland leider nicht so viel weiblichen Nachwuchs, wie man es sich wünscht. Meiner Meinung nach gab es da jahrzehntelang einen falschen Ansatz. Mit Dinara Wagner ist jetzt eine gute russische Spielerin zu uns gewechselt, aber sie ist kein Nachwuchs aus Deutschland, sondern ihr Wechsel war eher ein Glücksfall. Aber aktuell wird mit Artur Yusupov, einem der bekanntesten Trainer hier, ein Mädchenprojekt aufgebaut, das schon in der U8 beginnt. Ich bin auch Teil davon und ich hoffe, dass wir damit vielleicht eine Zukunft für das Frauenschach in Deutschland schaffen können. Was dabei herauskommt, werden wir aber erst in zehn Jahren sehen.
Aktuell sind sie die einzige Schach-Grossmeisterin aus Deutschland. Wem trauen Sie zu, Ihnen nachzufolgen?
Die aus Russland gewechselte Spielerin Dinara Wagner wird es natürlich schaffen. Aber eine Spielerin, die wirklich in Deutschland ausgebildet wurde, sehe ich in nächster Zeit nicht kommen.
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