Durch den Rücktritt Kim Buis, die mit 33 Jahren den Leistungssport aufgab, ist Elisabeth Seitz im Alter von 29 Jahren für die deutschen Turnerinnen so etwas wie die "Mutter der Kompanie". Seitz will deshalb auch viel mehr sein als eine erfolgreiche Sportlerin, "die still und leise zu einem Wettkampf geht und einfach ihr Zeug macht." Im exklusiven Interview mit unserer Redaktion schildert die EM-Dritte am Stufenbarren, wie sie ihre Rolle als Vorbild ausfüllt, ihre Erfahrung nutzt, was sie zu Essstörungen zu sagen hat und warum sie im Ganzkörperanzug auftritt.
Frau
Elisabeth Seitz: (lacht) Ich fühle mich auf jeden Fall noch nicht wie 29. Denn 29 ist sehr nah an der 30. (lacht erneut) Gerade durch meinen Sport bleibe ich jung. Dieses Gefühl habe ich. Trotzdem muss ich meinen Körper respektieren und merke, dass ich keine 16 Jahre alt mehr bin. Ich habe aber den Dreh raus und höre gut auf meinen Körper. Deswegen turne ich heute zum Teil sogar besser als noch vor ein paar Jahren.
Auffällig ist, dass Sie mit der Zeit immer besser geworden sind und auch mit 29 Jahren immer noch zur Weltspitze gehören.
Das ist richtig. Ich habe in den letzten Jahren vor allem gelernt, wie mein Körper tickt und wie ich auf ihn zu hören habe. Das setze ich in meinem Training optimal um und trainiere heute viel intelligenter. Ich weiss genau, wie mein Körper funktioniert und was er braucht. Ich überlege ganz genau, was und wie ich trainieren muss, um im Wettkampf perfekt performen zu können.
Ich nehme an, dass Sie heute viel selbstbestimmter trainieren als früher.
Genau. Vor allem kommuniziere ich extrem viel mit meinem Trainer. Ich erkläre ihm, wie ich mich fühle und was mir jetzt am besten tut. Dann sagt er, was er denkt, und wir versuchen jeden Tag aufs Neue, unsere beiden Einschätzungen zusammenzubringen. Scheinbar funktioniert das extrem gut.
Kunstturnerinnen waren in der Wahrnehmung vieler Menschen lange Zeit sehr junge Mädchen. Verschiebt sich da gerade etwas hin zu "älteren" Turnerinnen? Auch Ihre Teamkollegin Kim Bui hat erst mit 33 Jahren den Leistungssport aufgegeben.
Auf jeden Fall verschiebt sich etwas. International sind dafür die vergangenen Europameisterschaften in Antalya ein gutes Beispiel. Die Europameisterin am Schwebebalken ist über 30 Jahre alt und hat bei der EM ihr Comeback gefeiert (Sanne Wevers aus den Niederlanden, 31 Jahre alt, Anm. d. Red.). Auch die Vize-Europameisterin am Stufenbarren (Rebecca Downie aus England, Anm. d. Red.) ist schon über 30 Jahre alt. Die Welt hat realisiert, dass erfahrene Athletinnen und Athleten so viel mitbringen, was die Jüngeren noch nicht haben, weil sie die vielen Jahre im Sport noch nicht erlebt haben. In Verbindung mit einem intelligenten Training kann man noch so viel herausholen, zum Beispiel, dass der Körper auch über den Profisport hinaus noch langfristig funktioniert.
Es gibt aber auch schwierige Phasen. Kim Bui berichtete offen von Ihren Essstörungen, hat jahrelang unter Bulimie gelitten. Dieses Phänomen kennt man auch aus dem Eiskunstlauf oder dem Skispringen. Waren Sie selbst auch mal in dieser Gefahr?
Glücklicherweise bin ich in meiner Karriere immer gesund geblieben und hatte mit Essstörungen keine Probleme. Das Thema Gewicht aber war gerade in früheren Zeiten immer ein sehr grosses. Wir sind in dieser Richtung allerdings einige Schritte vorangekommen. Heute können wir darüber offen sprechen. So wie Kim das macht. Ich wünsche mir, dass deswegen die jüngeren Athletinnen und Athleten nicht so sehr in diese Gefahr geraten oder mit dem Thema alleine bleiben. Sie müssen realisieren, dass diese Störung nicht gut für sie ist und sie darüber reden müssen.
Aber können sich jüngere Athletinnen und Athleten diesem Druck entziehen, noch dazu, wenn er direkt von der Trainerin oder dem Trainer kommt und auf die Psyche einwirkt?
Wenn der Druck extrem von der Trainerin oder dem Trainer kommt, wird das schwierig. Aber auch diesbezüglich bilden sich Trainerinnen und Trainer momentan fort. Sie haben selbstverständlich nicht das Ziel, jemanden krank zu machen. Sie wollen, dass ihre Athletinnen und Athleten ordentlich turnen, gute Leistungen bringen und glücklich und gesund sind. Wir sind aber noch lange nicht an dem Punkt, um zu sagen, damit haben wir jegliche Gefahr behoben. Es geht jedoch in die richtige Richtung.
Betrachten Sie sich als Vorbild?
Auf jeden Fall. Ich sehe mich sehr als Vorbild und versuche, in meinem "hohen" Alter – weil ich weiss, dass meine Karriere nicht mehr ewig andauern wird – den Jüngeren so viel wie möglich mitzugeben. Dabei geht es weniger um Turntechniken, sondern mehr um das ganze Drumherum. Wie gestalte ich mein Leben, um glücklich und gesund zu sein und meinen Hochleistungssport mit tagtäglichem, harten Training auszuüben? Das Ziel ist, dass jüngere Athletinnen und Athleten, sollte es mit der Karriere nicht wie erhofft klappen, nicht anschliessend in ein Loch fallen. In dieser Hinsicht versuche ich, den Jüngeren etwas mitzugeben und bin für alle Fragen offen. Und die Jüngeren kommen diesbezüglich auch immer wieder auf mich zu. Ich höre oft, es sei zu sehen, dass ich mit einer Leichtigkeit und grossen Freude an meine Wettkämpfe herangehe, trotz des Drucks und Stress' dahinter. In dieser Hinsicht möchten sich einige jüngere Athletinnen und Athleten einiges von mir abschauen. Und denen möchte ich weiterhelfen.
Das ist eine Folge der Erfahrung, die Sie gesammelt haben.
Es ist zum einen Erfahrung, zum anderen aber auch Charaktersache. Manche sind verkopfter als ich. Ich bin ein Lebemensch.
Sie waren die erste Turnerin, die in einem Ganzkörperanzug turnte und so auf die anhaltende Sexualisierung der Körper von Turnerinnen aufmerksam machte. Was hat sich seither in Ihrem Sport getan? Spüren Sie eine Verbesserung in der Selbstbestimmung der Turnerinnen?
Primär ging es nicht um die Sexualisierung. Es ging – ganz simpel gesagt – darum, die Wahl zu haben und sich nicht eingeengt zu fühlen, im wahrsten Sinne des Wortes. Unsere Turnanzüge sind sehr knapp und eng geschnitten. Man muss sich in seinem Leben und bei der Ausübung seines Sports wohlfühlen. Nur dann kann man Höchstleistung erbringen. So kamen wir auf das Thema mit den langbeinigen Turnanzügen. In der Öffentlichkeit sieht man bei grösseren Wettkämpfen noch nicht den Nachahmungseffekt bei anderen Turnerinnen. Es war aber auch nicht unser Ziel, dass wir bei einer Weltmeisterschaft am Ende alle in langbeinigen Anzügen turnen. Viele Breitensportlerinnen in Deutschland fühlen sich in den knapp geschnittenen Anzügen nicht wohl. Und gerade aus dem Bereich haben wir bereits viele dankbare Rückmeldungen bekommen, dass wir diesen Schritt gegangen sind und es vermehrt die Ganzkörperanzüge gibt. Viele Athletinnen haben dadurch wieder viel mehr Spass am Turnen gefunden. Und darum ging es uns. Wir wollten auch über den Sport hinaus ein Zeichen setzen. Und das ist uns sehr gut gelungen.
Wie gut fühlen Sie selbst sich in einem langbeinigen Anzug im Vergleich mit dem kurzbeinigen? Turnen Sie darin genauso gut?
Definitiv. Was ich an welchem Tag trage, kommt auf meine jeweilige Stimmung an und darauf, worauf ich Lust habe. Das Schöne ist, dass ich dann die Wahl habe, zu entscheiden, was ich anziehen möchte.
Damit nehmen Sie Einfluss auf Ihren Sport. Wie wichtig ist Ihnen das?
Gerade jetzt, mit 29 Jahren, möchte ich mehr als eine Turnerin sein, die still und leise zu einem Wettkampf geht und einfach ihr Zeug macht. Wenn es etwas zu verändern gibt und man Fortschritte machen kann, dann möchte ich ein Teil davon sein.
Bedauern Sie in diesem Zusammenhang die geringen TV-Zeiten für das Turnen, gerade im Vergleich mit dem alles überragenden Fussball?
Wir würden auf jeden Fall gerne öfter und länger im Fernsehen gezeigt werden. Auch das versuche ich an die Leute heranzubringen, um das Verständnis für das, was wir machen und wie wir es machen, zu verstärken. Dazu aber brauchen wir die Präsenz im Fernsehen. Ich wäre gerne Vorbild für viele und würde Kindern und Jugendlichen gerne zeigen, wie wahnsinnig schön unsere Sportart, aber auch der Sport allgemein ist. Wenn es aber nicht im Fernsehen gezeigt wird, ist es schwer, die Menschen mitzunehmen und zu begeistern. Fussball ist zwar für die Masse schön und leicht anzuschauen. Kindern und Jugendlichen aber muss man die Vielfalt des Sports zeigen. Damit sich alle wieder mehr bewegen und den Spass am Sport finden.
Man darf nicht vergessen, dass die Turnbewegung historisch betrachtet eine Keimzelle des Sports und seiner Vereine ist, gerade in Deutschland.
Das sollte man auf gar keinen Fall vergessen. Wenn ich – hoffentlich – mal Kinder haben werde, ist für sie Turnen der perfekte Start in jede Sportkarriere. Turnen ist perfekt, um ein Körper- und ein Bewegungsgefühl zu finden.
Lesen Sie auch: Tennisstar Angelique Kerber ist erstmals Mutter geworden
Sie haben mir ein letztes Stichwort gegeben: Kinder. Die Zahl der Leistungssportlerinnen, die nach einer Geburt ein Comeback geben und somit Familie und Leistungssport miteinander verbinden, wächst. Wie würden Sie es als Turnerin handhaben?
Meine Turnkarriere dauert schon jetzt sehr lange an. Ich werde dieses Jahr 30 Jahre alt. Auch ohne Kind ist es ungewöhnlich, bis 30 oder darüber hinaus im Hochleistungssport Turnen zu sein. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für mich nicht infrage kommen wird, mit einem Kind zurück in den Leistungssport zu gehen. Gerade im Turnen wirken sehr viele Kräfte auf den Körper, wird er sehr belastet. Ich habe grossen Respekt vor allen Leistungssportlerinnen, die ihr Comeback mit Kind geben, kann es mir aber für mich – Stand heute – nicht vorstellen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.