Er kam als Flüchtling nach Deutschland, sass zwei Mal in U-Haft, wurde niedergestochen und angeschossen, galt zudem als das peinliche Grossmaul des Boxsports. Nun könnte Manuel Charr der erste deutsche Schwergewichts-Weltmeister seit Max Schmeling werden.
Vor gut 87 Jahren wurde Max Schmeling der erste und bislang einzige deutsche Box-Weltmeister im Schwergewicht. Nun könnte ihm
Der 33-Jährige boxt gegen Alexander Ustinov um den WM-Gürtel (21:30 Uhr auf Sky Sport News). Die Weltmeisterschaft wäre der Höhepunkt eines Lebensweges, der einige Höhen, vor allem aber viele Tiefen beinhaltete.
Auf der Strasse kämpfen gelernt
Als eines von acht Geschwistern wuchs er in Beirut auf. Mehr als 15 Jahre wütete dort ein Bürgerkrieg.
Bereits als kleines Kind musste Charr feststellen, was Krieg bedeutet: Weil eine Kugel in sein Bein splitterte, wurde eine Notoperation vorgenommen. Mit zwei Jahren verlor er seinen Vater.
1989 floh seine Familie nach Deutschland. Er entkam der im Libanon ständig präsenten Todesgefahr, erlebte dafür aber hierzulande ein Leben ohne Perspektive. "Das Leben für Flüchtlinge war hart", erzählte der Boxer bei Sky Sport News HD.
"Heutzutage haben Flüchtlinge viele Möglichkeiten. Aber damals durfte ich keine Ausbildung machen. Nach der Schule war man auf der Strasse und durfte nicht arbeiten."
Er trieb sich in den miesesten Gegenden von Gelsenkirchen herum. Laut Charr waren es Strassen, in die sich nicht einmal die Polizei traute. Schlägereien und Messerstechereien waren an der Tagesordnung. "Dort habe ich das Kämpfen gelernt. Auf der Strasse ging es darum, sich zu verteidigen."
Der Traum vom besseren Leben
Charr träumte von einem besseren Leben. "Ich wollte von der Strasse zu den Sternen", lautet eines seiner meistzitierten Statements.
Weil es beruflich keine Perspektiven gab, setzte er auf den Sport. Mit 16 Jahren bezog er als Kickboxer ein Sportinternat in Duisburg. Er gewann zwei Deutsche Meisterschaften und eine Europameisterschaft.
Nebenbei arbeitete er als Türsteher. Im Jahre 2005 erfolgte der Wechsel zum Boxsport. Ulli Wegner, der unter anderem Arthur Abraham zum Weltmeister formte, war sein erster Förderer.
Von der Vergangenheit eingeholt
Seine Vergangenheit holte ihn aber wieder ein. Zwei Mal sass er im Untersuchungs-Gefängnis. 2006 wurde er wegen versuchten Totschlages angeklagt, 2011 wegen Autoschieberei angezeigt. Beide Male wurde er freigesprochen. Das Image des zwielichtigen Boxers blieb dennoch haften.
Im September 2012 bestritt er seinen ersten WM-Kampf. Der damalige Gegner:
Doch bereits in der 4. Runde wurde der Kampf aufgrund einer Cut-Verletzung im Gesicht von Charr abgebrochen. Sein aufgehender Stern erlosch. Schlimmer noch: Der Boxer versank in der Schmuddel-Ecke.
Um schnelles Geld zu verdienen, nahm er jedes Angebot an. 2013 nahm er bei Promi-Big-Brother teil. Vor laufenden Kameras knutschte er fremd mit IT-Girl Georgina Fleur, zeigte sich zudem eng umschlungen mit Pamela Anderson.
Der Sport spielte nur noch zweite Geige. Mit 126 Kilogramm und ohne Training stieg er teilweise in den Ring und wurde kräftig vermöbelt.
Die Bild-Zeitung betitelte ihn als "peinlichen Big-Brother-Boxer." Das Publikum pfiff ihn aus. "Vielleicht pfeifen sie, weil ich so ein geiler Typ bin", sagte er grosskotzig.
Den Gipfel der Grossmauligkeit war erreicht, als er mit fünf WM-Gürteln im Ring auftauchte, die er selber erfunden hatte.
"Ich kenne keine Angst"
Private Schicksalsschläge haben ihn geläutert. Im September 2015 wurde er in einem Döner-Imbiss angeschossen und überlebte nur mit viel Glück. Im März 2017 mussten ihm aufgrund einer Erkrankung zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt werden.
Die meisten Menschen befinden sich sieben Monate nach so einem Eingriff noch in der Reha. Charr hingegen boxt um die Weltmeisterschaft.
Sollte Charr den Weltmeistertitel des Verbandes WBA gewinnen, würde danach wohl ein Duell gegen Anthony Joshua erfolgen. Der Klitschko-Bezwinger steht als WBA- Superchamp über dem Weltmeister.
Zur Erklärung: Joshua hatte durch den Sieg gegen Klitschko den Titel dreier Verbände gewonnen, unter anderem von der WBA. Jedoch war es Joshua nicht möglich, die einmal jährlich stattfindenden Pflichtherausforderungen aller drei Verbände zu bestreiten.
Dadurch ist der WM-Titel vakant und wird zwischen Charr und Alexander Ustinov ausgeboxt. Joshua bleibt aber Superchamp.
Ob Charr stark genug ist, um mit Boxern dieses Kalibers mitzuhalten, wird in Fachkreisen bezweifelt. Er hat zwar 28 seiner 34 Profikämpfe gewonnen. Gegen starke Gegner wie Klitschko oder Alexander Powetkin zog er jedoch den Kürzeren.
Ob er nach der Hüft-OP wirklich 100-prozentig fit ist, ist ebenfalls fraglich.
Sorgen macht sich Charr deshalb aber nicht. Kein Wunder bei seinem Lebenslauf: "Ich habe den Krieg überlebt, ich habe mit 16 einen Messerstich überlebt, ich habe vieles erlebt – ich kenne keine Angst."
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