In den nächsten Wochen kämpfen Ian Nepomniachtchi und Ding Liren um den Titel des Schachweltmeisters. Der YouTuber und Schachstreamer Georgios Souleidis, auch bekannt als "The Big Greek", erklärt im exklusiven Interview, was er von der WM erwartet und warum Titelverteidiger Magnus Carlsen nicht mehr antritt.

Ein Interview

Herr Souleidis, am 9. April spielen Ian Nepomniachtchi und Ding Liren die erste Partie um den Titel des Schach-Weltmeisters. Wer ist Ihr Favorit?

Mehr News zum Thema Sport

Georgios Souleidis: Schwer zu sagen, es kann in alle Richtung gehen. Für "Nepo" ist es die zweite WM, er hat deshalb schon ein festes Team, das um ihn herum arbeitet. Ding ist vielleicht der bessere Spieler, scheint aber etwas labiler zu sein. Es gab Turniere, wo er sogar alleine angereist ist, was etwas seltsam wirkte – er muss doch wenigstens ein paar Freunde haben, die ihn unterstützen. Gerade bei einem langen Turnier braucht man unbedingt ein gutes Team um sich herum. Von der Spielstärke sind die beiden aber so nah aneinander, dass es quasi ein klassisches 50-50 Match ist.

Ist es dann überhaupt ein Nachteil, dass mit Magnus Carlsen der amtierende Weltmeister seinen Titel nicht mehr verteidigen will?

Für die Schachwelt selbst ist es natürlich ein grosses Reizthema. Kaum jemand bezweifelt, dass Magnus Carlsen weiterhin der beste Schachspieler ist. Er ist die Nummer Eins der Weltrangliste und hat immer noch die höchste ELO-Zahl weltweit. Und viele glauben deshalb, dass er auch die Verantwortung hat, seinen Titel zu verteidigen. Aber so wird es einen neuen Weltmeister geben, der nicht der beste Schachspieler sein wird.

Wird der WM-Kampf dadurch entwertet?

Per Definition ist das so. Ich bin aber nichtsdestotrotz gespannt, wie viel Aufmerksamkeit das Turnier generieren wird. Der internationale Schachverband FIDE ist stark bemüht, den Sport im besten Licht zu zeigen, es finden in Astana auch viele interessante Rahmenveranstaltungen rund um die Partien statt. Und eine Schach-WM ist hinsichtlich der Medienpräsenz in der Schachwelt immer noch einzigartig. Auch grössere Medien sind daran interessiert, jetzt über den Sport zu berichten.

Können Sie die Entscheidung von Carlsen trotzdem nachvollziehen?

Ich kann verstehen, dass die Verteidigung des Weltmeistertitels für ihn nicht mehr so interessant ist.

Warum?

Weil er schon seit mehr als einem Jahrzehnt der beste Spieler der Welt ist und seit 2013 ungeschlagener Weltmeister. Er macht im klassischen Schach so gut wie keine Fehler mehr. Für ihn ist es keine Herausforderung mehr, seinen Titel zu verteidigen, egal gegen wen es geht. Carlsen konzentriert sich daher auch seit Längerem eher auf Schnell- und Blitzschachturniere.

"The Big Greek" über die Schach-WM: "Früher war noch mehr eigene Kreativität im Spiel"

Und dort ist es für ihn spannender?

Ja. Das Problem ist auch, dass die klassische Schach-WM mit langen Bedenkzeiten durch Schachcomputer inzwischen ein bisschen anachronistisch geworden ist. Ich habe zum Beispiel für meinen YouTube-Kanal einige WM-Partien von 1978 zwischen Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi analysiert. Die Spieler haben damals schon in der Eröffnung und im Mittelspiel klare Fehler gemacht, weil sie die ganze Vorbereitungsmaschinerie im Hintergrund noch nicht hatten. Aber es war auch noch viel mehr eigene Kreativität im Spiel. Heute analysieren die Spieler im Vorfeld monatelang alle möglichen Varianten, die sie auswendig lernen und im Spiel nur noch abspulen müssen. Und das macht es in gewissem Masse auch langweilig.

Auch für die Spieler selbst.

Die spielen ja nicht nur die Partie, sondern sitzen vorher stundenlang mit ihren Teams zusammen und bereiten sich vor - fast so lange wie die Partien selbst dauern. Und die dauern mindestens drei Stunden, der Rekord einer gespielten Partie liegt bei acht Stunden. Das ist auch kein Training, sondern eine konkrete Vorbereitung auf den Gegner, die eben unglaublich viel Zeit verschlingt.

Auch im Internet ist Schnell- und Blitzschach längst populärer. Werden kurze Partien dem klassischen Schach irgendwann den Rang ablaufen?

Im Moment gibt es noch eine Koexistenz der verschiedenen Bedenkzeiten, aber es verschiebt sich natürlich. Für die grosse Masse an Schachspielern ist das irrelevant, es geht hier nur um die besten Spieler der Welt. Ob sie weiter bereit sind, Stunden über Stunden am Computer zu sitzen, Varianten auszuarbeiten und Zeit in die Vorbereitung zu investieren, ist die Frage. Vielleicht macht es bald tatsächlich keinen Sinn mehr, noch eine klassische Weltmeisterschaft auszuspielen. Im Moment ist es aber noch nicht so weit, das Medieninteresse für die WM ist weiter hoch. Mit insgesamt zwei Millionen Euro gibt es ausserdem nirgendwo höhere Preisgelder in der Schachwelt. Für die meisten Spieler bleibt es also weiterhin interessant, keine Frage.

Könnte eine Änderung des Turniermodus, zum Beispiel mit mehr Spielern, der WM neuen Schwung verleihen?

Das würde nicht viel ändern. Das Kandidatenturnier findet vor der WM ja schon als Turnier mit acht Spielern statt. Gerade das WM-Duell ist aber das, worauf sich die Leute am Ende trotzdem noch freuen. Diesen Zweikampf, Mann gegen Mann, kann man gut vermarkten, es wäre Quatsch, das zu verändern.

"The Big Greek" über Online-Schach: "Die neu eigeführten Formate sind extrem erfolgreich"

Sie selbst kennen die Welt der Schachprofis, sind als Streamer und YouTuber aber auch im Online-Schach aktiv. Wie verschieden sind die beiden Welten noch?

Das ist schon sehr stark vernetzt. Die neu eingeführten Online-Formate sind extrem erfolgreich, etwa die Champions Chess Tour, an der die Topspieler teilnehmen, aber auch viele weitere Profiturniere. Vor allem im englischsprachigen Raum gibt es mittlerweile auch wahnsinnig viele Schach-Streamer und -Streamerinnen. Das ist eine ganze Generation junger Spieler, die die sozialen Medien viel professioneller nutzt als ihre Vorgänger, die überhaupt nicht an solche Dinge gedacht haben. Schach ist in diesem Sinne auch ein E-Sport geworden - im Gegensatz zu anderen Sportarten braucht es zum Spielen nur einen Bildschirm und eine Internetverbindung.

Hätten Sie damit gerechnet, eines Tages mit Schachvideos ihr Geld zu verdienen?

Überhaupt nicht und damit konnte man auch gar nicht rechnen. Schach wurde als Randsportart in den sozialen Medien lange Zeit kaum wahrgenommen. Meinen Kanal habe ich 2019 auch eher nebenbei gestartet und einfach mal geguckt, was passiert. Erst ab April 2020 sind die Zuschauerzahlen mit der Pandemie quasi explodiert. Und mittlerweile ist daraus auch ein Beruf geworden.

Der Schachhype konnte sich also auch über die Pandemie hinaus halten?

Auf jeden Fall. Das ist jetzt drei Jahre her und weiterhin wird sehr viel gespielt und geguckt. Die Schachplattformen können dem Ansturm teilweise kaum noch standhalten und sind überlastet. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs, wie bei anderen Sportarten auch. Aber Schach ist weiter sehr beliebt bei den Zuschauern und es macht nicht den Anschein, dass das in naher Zukunft abnimmt. Ich bin gespannt, wie sich dieses Interesse bei der Weltmeisterschaft widerspiegelt.

Zur Person: Georgios Souleidis wurde 1972 in Hagen geboren. Für die Sportfreunde Katernberg und den SV Wattenscheid spielte er in der Schachbundesliga, seit 1999 trägt er den Titel Internationaler Meister. Mittlerweile betreibt Souleidis mit "The Big Greek" einen der erfolgreichsten Schachkanäle im deutschsprachigen Raum. In seinen Videos und Livestreams vermittelt er Schachwissen, analysiert Partien und spielt natürlich auch selbst.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.