Der Sport steht still in den USA. Zumindest für einen Tag. Weil es Wichtigeres gibt als Körbe, Tore oder Matchbälle. Mit ihrem Boykott heben die Basketballer der Milwaukee Bucks den Protest im US-Sport gegen den Rassismus und die Polizeigewalt auf eine neue Stufe.

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Die ergreifende Protestnote der Milwaukee Bucks aus den Arena-Katakomben von Orlando trifft die aufgewühlten USA mit voller Wucht und setzt eine historische Zäsur. Am Jahrestag der ersten Anti-Rassismus-Aktion von NFL-Profi Colin Kaepernick folgen Sportler landesweit in zuvor noch nie da gewesener Art und Weise mit klaren Zeichen gegen Polizeigewalt und Rassismus in ihrem tief gespaltenen Land. Ausgelöst vom beispiellosen Playoff-Boykott der Basketballer aus Milwaukee verzichteten am Mittwoch (Ortszeit) Teams und Spieler in der NBA, MLB, MLS und WNBA auf ihre Wettkämpfe. Die nahe Zukunft der Sportwettbewerbe ist ungewiss, auch Saisonabbrüche sind längst nicht mehr ausgeschlossen.

Zeit für Taten

Das Auftreten der Bucks um Superstar Giannis Antetokounmpo hinterlässt tiefen Eindruck. Nahezu komplett in Schwarz tritt das Team aus Wisconsin vor die Medien, um mit ebenso wuchtigen Worten seine Position darzulegen. Zuvor war der Titelkandidat einfach nicht zu seinem Playoff-Spiel gegen die Orlando Magic erschienen. Worte sind genug gesprochen, es ist Zeit für Taten - das ist die Botschaft, die ausgerechnet aus dem Gute-Laune-Park Walt Disney World Ressort in die Welt geht.

"Wir fordern Gerechtigkeit für Jacob Blake und dass die beteiligten Officers zur Rechenschaft gezogen werden", sagen George Hill und Sterling Brown, stellvertretend für ihre Teamkollegen. Sie fordern, "nach Monaten der Inaktivität bedeutsame Massnahmen zu ergreifen", um Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen und die Themen "Polizeigewalt und Reform der Strafjustiz" endlich anzugehen. Die jüngste Gewalttat von Polizisten gegen einen Schwarzen am Wochenende hat viele Spieler ein weiteres Mal schwer getroffen. Die Heimstätte der Bucks liegt nicht einmal eine Stunde von dem Ort entfernt, an dem Blake niedergeschossen wurde.

Playoffs sollen fortgesetzt werden

Nach dem Boykott der Bucks sagt die NBA alle drei für Mittwoch geplanten Playoff-Partien ab, die für Donnerstag angesetzten Spiele werden später verschoben. Die Ausscheidungsspiele sollen aber weitergehen, schrieb das Sport-Portal "ESPN" am Donnerstag, weiteren US-Medien zufolge an diesem Wochenende. Am Mittwoch stand der Sport auch bei den Kolleginnen aus der WNBA, in der Baseball-Liga MLB und bei den Fussballern der MLS still.

Beim von Cincinnati nach New York verlegten Masters-1000-Turnier der Tennisprofis kündigte Grand-Slam-Champion Naomi Osaka an, zu ihrem Halbfinale am Donnerstag nicht anzutreten. Die Veranstalter sagen kurz darauf alle vier Halbfinals bei den Damen und Herren für Donnerstag ab und verkünden eine Spielpause bis Freitag. Nur die NHL setzt ihre Eishockey-Playoffs fort.

Zuspruch für NBA-Profis

Von Profisportlern aus der NBA und der NFL gibt es Zuspruch für den Schritt der Bucks. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama schreibt: "Ich preise die Spieler der Bucks, die einstehen dafür, woran sie glauben, Trainer wie Doc Rivers und die NBA und WNBA dafür, ein Zeichen zu setzen. Es wird all unsere Institutionen brauchen, um für unsere Werte einzustehen."

Wie es in der NBA weitergeht, war und ist Bestand heftiger Diskussionen. In einem hoch emotionalen Spieler-Meeting sollen sich die Los Angeles Lakers angeführt von Superstar LeBron James für einen Abbruch der Playoffs ausgesprochen haben. "Scheiss darauf, Mann. Wir verlangen Veränderung. Krank davon", schrieb James in Grossbuchstaben und mit vielen Ausrufezeichen. Auch der Lokalrivale Los Angeles Clippers soll gegen eine Fortsetzung der Saison sein. Andere Teams wollen dagegen weiterspielen - momentan sieht es danach aus.

Kaepernick-Kniefall vor genau vier Jahren

Auf den Tag genau vier Jahre, nachdem der damalige 49ers-Quarterback Kaepernick sich bei einem Testspiel vor der NFL-Saison erstmals während der Nationalhymne hingekniet und das Land in eine emotionale Zerreissprobe geführt hatte, erreicht die Debatte um Rassismus und Polizeigewalt in den USA eine neue Dimension.

Der Grund: Der 29 Jahre alte Familienvater Jacob Blake war am Sonntag durch Schüsse der Polizei in seinen Rücken schwer verletzt worden. Auf einem Video ist zu sehen, wie Blake zu seinem Auto geht, gefolgt von zwei Polizisten mit gezogenen Waffen. Eine der Waffen ist auf seinen Rücken gerichtet. Als Blake die Fahrertür öffnet und sich ins Auto beugt, fallen Schüsse. Nach Angaben des Anwalts der Familie sassen in dem Auto Blakes Kinder im Alter von drei, fünf und acht Jahren. Nach Angaben von Blakes Vater und des Anwalts ist er infolge der Schüsse von der Hüfte abwärts gelähmt.

Doc Rivers mit emotionalem Kommentar

"Trotz der überwältigenden Plädoyers für Veränderungen hat es keine Handlungen gegeben. Unsere Konzentration kann deswegen heute nicht dem Basketball gelten", heisst es in dem Statement der Bucks weiter. "Wenn wir auf dem Platz stehen und Milwaukee und Wisconsin repräsentieren, wird von uns das höchste Niveau erwartet, dass wir alles geben und uns gegenseitig in die Verantwortung nehmen. Wir erfüllen diesen Standard und fordern das gleiche von unseren Gesetzgebern und der Strafverfolgung."

Tags zuvor hatte Doc Rivers bereits mit einem emotionalen Kommentar seinen Schmerz und seine Wut zum Ausdruck gebracht: "Es ist für mich erstaunlich, warum wir dieses Land weiterhin lieben und dieses Land uns nicht zurück liebt", sagte der Trainer der Los Angeles Clippers als Reaktion auf das Video der Schüsse auf Blake.

Sport wird zur Nebensache

Schon vor dem Einzug der Profis in die Anti-Corona-Blase nach Florida hatten die Anti-Rassismus-Proteste im Land eine grosse Rolle gespielt. Einige Basketballer waren der Meinung, dass mit einer Fortsetzung der durch die Pandemie unterbrochenen Saison der Fokus auf dieses so wichtige Thema verloren gehe. Nach den Vorfällen ist für viele der Sport endgültig nur noch nebensächlich. (mss/dpa)

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