Maximilian Klein von "Athleten Deutschland" spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Empfehlung des IOC, russische Sportlerinnen und Sportler wieder in Wettbewerbe einzugliedern, den umstrittenen IOC-Präsidenten Thomas Bach, den drohenden Olympia-Boykott der Ukraine und die Auswirkungen auf die Qualifikationswettbewerbe für die Sommerspiele 2024 in Paris.

Ein Interview

In der vergangenen Woche haben das Internationale Olympische Komitee (IOC) und Präsident Thomas Bach die Empfehlung abgegeben, dass russische Sportlerinnen und Sportler wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen sollen.

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Der Sportpolitik-Experte Maximilian Klein von "Athleten Deutschland e.V." ordnet im Interview mit unserer Redaktion die höchst umstrittene Empfehlung des IOC ein.

Klein kritisiert Bach und äussert sich zum drohenden Olympia-Boykott der Ukraine sowie den Auswirkungen der IOC-Empfehlungen auf die Qualifikationswettbewerbe für die Sommerspiele 2024 in Paris.

Herr Klein, das Internationale Olympische Komitee hat am Dienstag die Rückkehr russischer Athletinnen und Athleten in den Weltsport empfohlen. Die Entscheidung hatte sich angedeutet, hatten Sie vielleicht trotzdem Hoffnung, dass es anders ausgehen könnte?

Maximilian Klein: Die Entscheidung war leider erwartbar. Das hatte sich in den vergangenen Wochen und Monaten abgezeichnet. Das IOC hatte das Thema bereits im vergangenen Herbst in unterschiedlichen Gruppen, auch in mehrfachen Telefonkonferenzen mit Athletenvertretungen aus aller Welt, angetestet. Da war eigentlich schon sehr klar, dass sich das IOC Gedanken darüber macht, wie man russische und belarussische Athletinnen und Athleten wieder eingliedern kann.

Von daher kam es nicht überraschend, aber wir hätten uns natürlich ein völlig anderes Ergebnis gewünscht. Vor allem stört uns auch die Art und Weise, wie verfahren worden ist. Man beruft sich auf Umfragen und Mehrheitsvoten, anstatt eine gründliche Abwägung zwischen den Schutzbedürfnissen und Rechten der ukrainischen Athletinnen und Athleten und der russischen Athletinnen und Athleten vorzunehmen.

IOC-Präsident Thomas Bach beruft sich aber auf Diskriminierungsverbote und die Olympische Charta, die besagt, dass niemand aufgrund seiner nationalen oder sozialen Herkunft diskriminiert werden darf. Haben Sie dafür Verständnis?

Wir verstehen, dass diese Abwägungen schwierig für das IOC sind und solche Entscheidungen sicherlich nicht leicht sind. Wir stellen jedoch infrage, ob der Start unter neutraler Flagge in diesem Fall ein geeignetes Instrument ist. Frau Patricia Wiater nimmt in ihrem Gutachten im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) eine differenzierte Menschenrechtsanalyse vor und kommt zu dem Schluss, dass ein Kollektivausschluss ein geeignetes Mittel ist und trotz vorliegender Ungleichbehandlung nicht gegen Diskriminierungsverbote verstösst.

Das IOC beruft sich auf zwei UN-Sonderberichterstatterinnen, die nach unserer Kenntnis so ausführliche Analysen und Abwägungen nicht vorgelegt haben. Wir würden uns zumindest wünschen, dass es eine Stellungnahme oder eine eingehende Befassung mit dem Gutachten aus Deutschland gibt. Und dass nicht mit Mehrheitsvoten hantiert wird, wenn es um die Rechte und Schutzbedürfnisse von Athleten geht.

Letzten Endes sind die ukrainischen Athletinnen und Athleten völlig in den Hintergrund geraten. Es geht darum, sie zu schützen. Deshalb muss man auch sie vielleicht fragen, ob die angekündigten Massnahmen geeignet sind, um ihre Rechte und Interessen zu wahren.

Der internationale Fechtverband hatte bereits am 10. März die Rückkehr russischer und belarussischer Sportlerinnen und Sportler beschlossen. Hätten Sie sich mehr Widerstand vom Deutschen Fechter-Bund gewünscht?

Das Abstimmungsverhalten ist immer noch unklar, mutmasslich könnte diese Entscheidung auch mit deutscher Unterstützung herbeigeführt worden sein. Wir hätten uns mehr Haltung und ein entschlosseneres Vorgehen gewünscht, weil es letztlich auch die deutschen Athletinnen und Athleten in eine unmögliche Situation gebracht hat.

Das entspricht auch nicht den Diskussionen, die der deutsche Sport in den letzten Wochen geführt hat. Es gab einen grösseren Diskussionsprozess mit verschiedenen Gruppen, auch mit Athletenvertretern. Der DOSB hat eine sehr klare und unterstützenswerte Haltung formuliert, der Fechter-Bund scheint diese Haltung nicht mitgetragen zu haben.

Nun steht ein Olympia-Boykott der Ukraine für die Spiele in Paris 2024 im Raum.

Die jüngsten Empfehlungen können dazu führen, dass der Aggressor-Staat auf seinem Weg zurück in den Weltsport hofiert wird, während die Ukrainer vielleicht sogar dazu gedrängt werden, sich zurückzuziehen. Wer also Russland die Türen zum Weltsport wieder öffnet, schlägt diese möglicherweise für die Ukrainer zu.

Dieses schlimmste, aber absehbare Szenario deutet sich nun nach den jüngsten Ankündigungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj an. Dabei wollen viele ukrainische Athletinnen und Athleten, die noch einen Platz im Weltsport haben, ihr Können unter Beweis stellen und zeigen, dass die Ukraine lebt. Das IOC dürfte sehr genau um die Konsequenzen seiner Empfehlungen wissen.

Die endgültige Entscheidung wurden den Weltverbänden übertragen, was bedeutet, dass der eine Verband russische Athletinnen und Athleten zulassen könnte, der andere nicht. Droht mit Blick auf die Qualifikationswettbewerbe für die Olympischen Spiele in Paris 2024 ein riesiges Chaos?

Das ist genau das Problem. Das erinnert natürlich an den russischen Staatsdoping-Skandal, wo Einzelfallentscheidungen den Weltverbänden überlassen worden sind. Man sieht es jetzt schon beim Fechten. Dort herrscht Chaos und viele Athletinnen und Athleten sind höchst verunsichert. Mit den Empfehlungen ist eine Situation eingetreten, die es häufiger gibt. Das IOC spricht Empfehlungen aus, es gibt Schlupflöcher und zahlreiche ungeklärte Umsetzungsfragen.

Verantwortung wird zwischen dem IOC und den Weltverbänden hin- und hergeschoben. Dadurch entsteht organisierte Verantwortungslosigkeit. Und am Ende wird die Verantwortung auf den Schultern der Athletinnen und Athleten abgeladen. Sie, vor allem die ukrainischen, müssen das Versagen der Verbände dann ausbaden. Viele Athletinnen und Athleten aus anderen Ländern werden ebenfalls in individuelle Abwägungsentscheidungen gebracht; sie riskieren möglicherweise Sanktionen, Nominierungen oder ihre Sportförderung.

Eigentlich sollten sich die Verbände nun schützend vor sie stellen und sie vor diesen Dilemmata bewahren. Die deutschen Verbände sollten die deutsche Position in den Weltsport tragen. Die Weltverbände können nämlich nach wie vor Kollektivausschlüsse vornehmen. Wie man es bei der Leichtathletik gesehen hat. Das IOC hat allenfalls eine Minimallösung formuliert.

Sicherlich können die IOC-Empfehlungen dazu führen, dass viele russische Sportlerinnen und Sportler ausgeschlossen bleiben. Viele dürften vom Ausschluss der Team-Sportarten und dem Ausschluss der Angehörigen des Militär- und Sicherheitsapparates betroffen sein. Auch die Neutralitätskriterien für Individualathletinnen und -athleten wurden spezifiziert. Gleichzeitig sehen wir viele, viele Fragen unbeantwortet.

Welche Fragen sind das konkret?

Zum Beispiel, wie weit die Kriterien für aktive Kriegsunterstützung gehen. Oder ob russische Militärangehörige ihre Zugehörigkeit verschleiern und vielleicht zivile Sportförderung erhalten können. Es gibt auch Schlupflöcher, zum Beispiel was "Contracted members of the military" angeht. Sind dabei nur Vertragssoldaten gemeint oder auch Wehrpflichtige und zivile Mitarbeiter des Militärs? Wird aktive Kriegsunterstützung überwacht? Und wie weit reicht die Überwachung im Nachgang an Wettbewerbe? Gibt es ein Social-Media-Monitoring? Wie sind die Verfahrenswege?

Können sich die Weltverbände auf eine einheitliche Gerichtsbarkeit einigen? Wie verhindert man, dass die unter neutraler Flagge startenden Athletinnen und Athleten nicht von dritter Seite für propagandistische Zwecke instrumentalisiert werden? Was ist, wenn ukrainische auf russische Athleten treffen? Werden Antikriegsproteste oder Solidaritätsbekundungen unterstützt und geschützt? Wie sieht es mit der Dopingsituation in Russland aus? Es gibt so viele Unklarheiten, die nicht weiter spezifiziert wurden. Und das lässt viele Athletinnen und Athleten verunsichert zurück. Da sehen wir das Potenzial für Chaos.

Welche Bedingungen müssen aus Ihrer Sicht erfüllt sein, damit russische Athletinnen und Athleten wieder starten dürfen?

Sport und Staat sind in Russland eng verwoben, eine Trennung kann kaum vorgenommen werden. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein Start unter neutraler Flagge als Instrument ungeeignet ist. Wir sind der Auffassung – und wir haben uns diese Meinungsbildung nicht leicht gemacht – , dass ein Kollektivausschluss das richtige Mittel wäre. Auch das Gutachten von Patricia Wiater kommt zu dem Schluss, dass eine solche Ungleichbehandlung, die sicherlich vorliegt, nicht gegen Diskriminierungsverbote verstösst. Und die müsste so lange bestehen, wie der Angriffskrieg andauert.

IOC-Präsident Thomas Bach wurde nach der Empfehlung zur Rückkehr russischer Sportler öffentlich sehr hart kritisiert, unter anderem von Wladimir Klitschko und FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Wie würden Sie die Rolle von Thomas Bach in diesem Zusammenhang einschätzen?

Es ist natürlich ein schmaler Grat für das IOC und für Thomas Bach, über Kollektivausschlüsse zu entscheiden. Das IOC setzt sich eigentlich zum Ziel, vereinend zu wirken. Dass der Sport in die Welt getragen wird und überall auf der Welt stattfinden kann. Der Sport soll friedensstiftend wirken und zur Völkerverständigung beitragen. Das muss er sehr gut abwägen. Gleichzeitig scheint Thomas Bach nicht willens zu sein, über rote Linien im Weltsport zu diskutieren. Der Sport selbst steht auf einem Wertefundament und setzt sich hehre Ziele.

Während die Neutralität wichtig ist, um sich nicht vereinnahmen zu lassen, darf sie auch nicht als Ausrede verkommen. Als Ausrede, um Brüche mit den Werten des Sports zu dulden oder schwerwiegende Verletzungen von Völker- und Menschenrecht zu tolerieren. Diese überfällige Debatte wird immer wieder verpasst. Da muss sich Thomas Bach schon fragen, ob ein Staat, der einen anderen Staat überfällt, Teil der olympischen Bewegung sein kann, die sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzt.

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Gibt es weitere Beispiele für solche roten Linien?

Es gibt viele Länder, die den Sport instrumentalisieren oder Menschenrechte im Sport missachten. Aus unserer Sicht werden viele Weltverbände ihrer Verantwortung im Umgang mit diesen Fällen nicht gerecht und unternehmen zu wenig. Im Iran gibt es eine lange Geschichte von Menschenrechtsverletzungen im Sport; Athleten werden sogar hingerichtet. In Belarus wurden Athleten nach den Präsidentschaftswahlen verfolgt. In Afghanistan wird Frauen der Zugang zum Sport verwehrt. In China, wo Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden, wurden die Olympischen Spiele veranstaltet. Die Olympische Bewegung setzt sich für die Achtung der Menschenwürde ein.

Solange das IOC keine geeigneten Massnahmen unternimmt, um seiner Verantwortung als Dachorganisation der Olympischen Bewegung nachzukommen, verhöhnt es die selbstgesetzten Ziele. Dem stehen sicherlich auch ökonomische Interessen des Sports entgegen, Absatzmärkte wollen erschlossen werden. Gleichzeitig drängen immer mehr autokratische Staaten mit viel Macht in den Weltsport vor.

Sport lässt sich gut für innen- und aussenpolitische Zwecke instrumentalisieren. Bisher findet der Sport keine guten Antworten auf diese Gefahren. Russland zum Beispiel hat den Weltsport systematisch beeinflusst. Unter Thomas Bachs Führung fehlt bis heute eine unabhängige Aufarbeitung der eigenen Verantwortung, des eigenen Versagens im Umgang mit Russland.

Über den Experten:
Maximilian Klein ist Direktor für Sportpolitik des "Athleten Deutschland e.V.". Der Verein ist eine unabhängige Vertretung deutscher Kader-Athletinnen und -Athleten in Deutschland und setzt sich für Veränderungen im nationalen und internationalen Sportsystem ein.
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