Die Paralympics in Paris rücken immer näher. Vor den Spielen haben wir mit Dr. Karl Quade, dem Chef de Mission des deutschen Teams, unter anderem über chaotische Anfangszeiten, mögliche positive Auswirkungen, Corona-Sorgen und das Standing des Parasports in Deutschland gesprochen.

Ein Interview

Herr Quade, Sie sind in Paris zum 15. Mal Chef de Mission. Wie herausfordernd ist diese Aufgabe in der heutigen Zeit?

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Ich bin im Prinzip für alles verantwortlich. Natürlich ruht nicht alles nur auf meinen Schultern, ich habe ein Team aus erfahrenen Leuten um mich herum, die mich unterstützen und eigene Bereiche abdecken. Aber alle Spiele sind immer wieder neu. Es kehrt nie eine Routine ein, sondern jeder neue Standort und auch die neuen Menschen, auf die man trifft, erfordern neue Ideen, neue Strukturen und neue Wege, um alles entsprechend hinzubekommen.

1996 haben Sie Ihr "Debüt" gefeiert, waren aber schon vorher selbst als Athlet dreimal dabei, haben Gold gewonnen. Wie abenteuerlich waren denn die Anfänge?

Ja, das erste Mal als Chef de Mission in Atlanta war schwierig, man wusste gar nicht, was auf einen zukommt. Als Athlet lebt man in seinem Mikrokosmos, meine Bezugspunkte als Volleyballer waren die Mannschaft und der Trainer. Von der Gesamtorganisation ist man ganz weit weg. Atlanta war damals eine Chaosveranstaltung. Die Amerikaner haben nichts hinbekommen, das durfte auch nicht viel kosten. Zur damaligen Zeit konnte man deutlich merken, dass für die Paralympischen Spiele eigentlich kein Geld da ist.

"Das Essen in der Mensa war ungeniessbar."

Dr. Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Teams

Wie sah das im Detail aus?

Wir waren rustikal untergebracht in einer State University. Das Essen in der Mensa war ungeniessbar, hinzu kam noch das schwierige Klima für Mitteleuropäer, inklusive hoher Luftfeuchtigkeit. Viele verantwortliche Leute hatten von der Organisation keinen Plan. Es kam vieles zusammen. Und deshalb haben wir als Mannschaft sehr darunter gelitten. Und dies dann über die Bühne zu bringen, dass wir trotzdem sportlichen Erfolg haben und die Athleten motiviert blieben, war eine grosse Herausforderung. Mit einem tollen Team haben wir das am Ende aber ganz gut hinbekommen.

Wie haben sich die Spiele weiterentwickelt?

Das hat sich sukzessive verbessert. Es ist immer besser geworden, weil sich die Zusammenarbeit zwischen der olympischen und der paralympischen Organisation toll entwickelt hat. Seit 2010 gibt es eine gemeinsame Bewerbung und ein gemeinsames OK. Heutzutage sind das hochprofessionelle Organisationskomitees, die zum Beispiel auch die Volunteers frühzeitig anleiten. Für uns als Mannschaft ist es toll, dass wir jetzt so eine super Betreuung haben.

Wenn Sie jetzt sagen, das hat sich sukzessive zum Positiven entwickelt: Über welche Entwicklung freuen Sie sich am meisten?

Es gibt mehr Sportarten als früher. Und auch die Wettkampforganisation ist deutlich professioneller. Die Klassifizierung ist auf einem ganz anderen Niveau, auch wenn es im Einzelfall noch kritische Blicke gibt. Aber das war früher ganz anders, da wurde vor Ort klassifiziert mit allen Problemen, die da dranhingen. Dass es hochprofessionelle Ausrichter sind, macht es viel angenehmer. Man hat allerdings keine Schlupflöcher mehr, das ist vielleicht der kleine Nachteil. Früher konnte man das eine oder andere noch irgendwie hinkriegen. Das geht heute nicht mehr. Die wissen schon gut Bescheid.

Gibt es vielleicht auch irgendwas, das Sie bedenklich finden?

Ich hoffe, dass wir keinen Stress im Dorf oder an den Wettkampfstätten bekommen. Wir werden wahrscheinlich mehr Russen und Weissrussen vor Ort haben als das bei Olympia der Fall war. Auf der anderen Seite haben wir traditionell auch eine relativ grosse ukrainische Delegation. Das ist nicht unproblematisch. Wir haben zudem einen Krisenherd im Nahen Osten. Ich hoffe, dass alles ruhig bleibt, dass alles sportlich und nicht darüber hinaus noch politisch ausgetragen wird.

Grosse Hoffnungen auf eine grosse Wirkung

Ist die Vorfreude durch Olympia und die schönen Bilder noch einmal zusätzlich gewachsen?

Wir haben Spiele im Herzen einer Weltmetropole, und das hat man an jeder Ecke gesehen und gespürt. Das ist eine Stadt mit einer Wahnsinnsarchitektur, mit Bauwerken, die weltweit bekannt und in die Spiele eingebunden sind. Das wird ein tolles Erlebnis und eine unglaubliche Erfahrung werden. Ich hoffe, dass die Bilder, die um die Welt gehen, ähnlich positive Gefühle bewirken für unseren Sport, wie sie das bei Olympia gemacht haben.

Was für einen Zuspruch erwarten Sie bei den Paralympics?

Was bei Olympia sehr schön war: Die Sportarten, für die man keinen Eintritt zahlen musste, wie Radsport, Triathlon oder Marathon. Da waren unfassbar viele Zuschauer. Das war unglaublich, was da in der Stadt los war. Ich hoffe, dass wir das auch haben werden. Ich bin mir sicher, dass die Bevölkerung in Paris und auch die vielen anderen Besucher aus den Paralympics ein Fest machen.

Woraus sollten die Organisatoren lernen, was bei den Spielen nicht gut lief?

Ich hoffe, dass wir in der Seine eine vernünftige Wasserqualität vorfinden, damit unsere Athleten, ohne ihre Gesundheit zu gefährden, starten können. Ausserdem ist es ein Strömungsgewässer, weshalb ich hoffe, dass die Strömung nicht zu stark ist, denn wir haben auch Startklassen im Rollstuhl, die nicht so viel Vortrieb haben wie Olympioniken, weil sie nur Arme einsetzen können. Nicht, dass sie nicht gegen die Strömung anschwimmen können.

Wie gross sind die Sorgen wegen Corona?

Unsere Ärzte haben Corona-Regeln ausgegeben. Wir werden in geschlossenen Räumen verstärkt mit Masken arbeiten. Wir haben auch Tests dabei und wir werden Corona vor Ort sehr ernst nehmen. Wir werden den Athleten dringend raten, vor allen Dingen, wenn sie ausserhalb ihres Zimmers sind und in den Bussen mit anderen Mannschaften zusammen zu den Wettkämpfen fahren, Masken zu tragen, um sich zu schützen.

ARD und ZDF planen Live-Übertragungen aus Paris zur Primetime. Wie beurteilen Sie das mediale Standing des Parasports in Deutschland?

Das ist ausbaufähig, aber wir gehen Schritt für Schritt voran. Diese Primetime-Übertragungen finden erstmalig statt. Da freuen wir uns drauf und ich hoffe, dass wir aus sportlicher Sicht auch ordentlich was anbieten können. Und wenn ich sehe, wie viele Journalisten vor Ort sein werden, und wie gross die Resonanz teilweise jetzt schon ist, erwarte ich während der Spiele auch in Deutschland eine grosse Aufmerksamkeit. Und das wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Vor allen Dingen, was die Athletinnen und Athleten betrifft. Dass sie mit der Teilnahme und mit den entsprechenden Erfolgen vor Ort bessere Rahmenbedingungen bekommen, vielleicht auch noch den einen oder anderen Sponsor.

Das Standing wird besser

Und das generelle Standing? Muss man noch vielen Leuten erklären, was die Paralympics sind?

Das wird auch besser. Wenn man den Umfragen von Agenturen Glauben schenken darf, ist der Begriff Paralympics in der Bevölkerung zum Beispiel viel bekannter als der Begriff Behindertensport. Mit dem Begriff Paralympics können viele Leute etwas anfangen und wissen, dass dies eine Veranstaltung für Menschen mit Behinderung ist.

Rund um die Paralympics gehören die Lebensgeschichten der Sportler zum Narrativ. Das gilt durchaus als schmaler Grat, weil ja auch die Leistungen der Sportler im Fokus stehen sollten, sie aber auch Inspiration sein können. Wie stehen Sie der Berichterstattung gegenüber?

Die Sportler sehen das differenziert. Aus ihrer und auch aus meiner Sicht sollte man das viel mehr auf den Sport fokussieren. Aber die Geschichte dahinter gehört trotzdem immer dazu, für die Medien muss im Leben immer irgendwas passiert sein. Die Sportler erzählen das auch offen und ehrlich. Aber der Fokus könnte trotzdem mehr auf den Sport gerichtet werden. Doch zu dem Thema gibt es eine kleine Geschichte, denn es gab mal einen Radfahrer, der jetzt nicht mehr aktiv ist. Er hatte es nicht auf die internationale Bühne geschafft, hatte dann aber bei einem Unfall sein Bein verloren. Er kam zu den Paralympics und hat Erfolg gehabt. Und er hat mal gesagt: 'Für mich war es das grösste Glück, dass ich diesen Unfall hatte. So konnte ich mich im Sport austoben, habe Erfolg gehabt, stand in der Öffentlichkeit. All diese Dinge, die ich als Mensch ohne Behinderung nie erfahren hätte.' Auch so kann man das sehen.

Viele Sportler kämpfen um die Aufmerksamkeit, um die Sichtbarkeit für sich und den Sport. Wie schwierig ist das?

Das ist wichtig, um Sponsoreneinnahmen zu erzielen. Dafür müssen die Sportler ständig sichtbar sein. Das war bei uns damals ein bisschen anders, und ich weiss nicht, ob ich tauschen wollen würde. Denn heute wird man hinterher auch gerne mal angegangen in den sozialen Medien. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, muss man mit allem rechnen und umgehen, was die Öffentlichkeit bereithält. Aber wir haben eine hohe Sozialkompetenz in der Mannschaft, viele Sportler mit tollen beruflichen Qualifikationen. Die haben alle die Aufmerksamkeit verdient.

Shitstorms auch im Parasport

Gibt es die Shitstorms oder Anfeindungen auf Social Media auch im Parasport?

Das kommt vor, durchaus auch innerhalb unseres Bereichs, wo es auch um Konkurrenz geht. Manchmal geht es auch gegen unseren Präsidenten, der seine persönlichen Feinde hat, und auch ich bekomme schon mal mein Fett weg. Aber das ist mir egal, mich stört das nicht. Ich kann mich nur manchmal wundern, wie viel Zeit die Leute für solche Dinge aufbringen.

Mit welchen Zielsetzungen geht das deutsche Team die Spiele an, wie ist Team D aufgestellt?

Wir wollen sportlichen Erfolg haben, das ist klar. Wir würden uns freuen, wenn wir uns im Medaillenspiegel im Bereich der Top Ten bewegen. Aber was für mich eigentlich das Wichtigste ist: Dass in den Individualsportarten alle im Bereich ihrer Bestleistungen agieren. Wenn man es schafft, auf der grossen Bühne seine Bestleistungen zu zeigen, dann werde ich niemandem einen Vorwurf machen, wenn das dann keine Medaille wird. Bei den Mannschaften – wir sind mit vier Teams am Start – erhoffen wir uns mindestens eine Medaille, aber dazu sind auch Top-Leistungen der Spielerinnen und Spieler notwendig.

Nun hat Olympia gezeigt, dass der Sport verbinden kann, der olympische Geist wurde wiederbelebt. Welchen Boost erhoffen Sie sich durch die Paralympics?

Das sind die anderen Ziele, die wir haben. Wir wollen uns als deutsche Mannschaft vernünftig präsentieren, Vorbild sein, Menschen mit und ohne Behinderung motivieren, Sport zu treiben. Ich hoffe, dass die Spiele insgesamt dem Sport einen Schub verleihen. Es gibt sicherlich noch genügend Länder, in denen vor allem die Menschen mit Behinderung in der Ausübung ihrer sportlichen Aktivitäten sehr eingeschränkt sind. Ich erhoffe mir durch die Paralympics ein neues Bewusstsein bei denjenigen, die entscheiden können, dass man verstärkt auch Sport für Menschen mit Behinderung anbietet und fördert.

Wie erreicht man mehr Sichtbarkeit in Deutschland, auch um die Nachwuchsarbeit zu fördern?

Mit kontinuierlicher Berichterstattung, bundesweit, aber vor allen Dingen auch regional. Da tragen wir auch eine gewisse Schuld, da müssen wir besser kommunizieren. Wir brauchen auf Bundesebene Veranstaltungen wie zum Beispiel die Woche des Behindertensports, um viel stärker an den Nachwuchs heranzukommen. Es geht darum, Kontakte zu knüpfen zu Menschen mit Behinderung, vor allem im jungen Alter. Wir haben Angebote über Schnupperkurse oder Talentetage. Doch wenn man die Talente hat, was passiert dann? Wir haben zwar 6.000 Sportvereine in unserem Verband, aber die meisten sind fokussiert auf Reha und Breitensport. Da kann man keinen Leistungssportler hinschicken. Welcher Verein kann sich um diese Sportler kümmern? Da müssen wir enger zusammenarbeiten mit den Strukturen des olympischen Sports. Es geht dann darum, zu motivieren, zu überzeugen, zu starten und nicht von vornherein zu sagen, das funktioniert nicht. Das ist eine der wichtigsten Schnittstellen bei uns, denn bevor man in die Leistungszentren geht, ist viel Aufbauarbeit nötig, um sich als Sportler zu entwickeln.

"Das würde den zeitlichen Rahmen der gesamten Veranstaltungen sprengen. Olympia wird zerfleddert, wenn die Spiele fünf Wochen dauern."

Dr. Karl Quade über die Olympischen und Paralympischen Spiele als gemeinsames Event

Für die Zukunft: Sollten Olympia und Paralympics zusammen stattfinden?

Aus heutiger Sicht halte ich das für nicht realisierbar. Das würde den zeitlichen Rahmen der gesamten Veranstaltungen sprengen. Olympia wird zerfleddert, wenn die Spiele fünf Wochen dauern. Da sind viele Sportler schon wieder lange ganz woanders, wenn die Abschlussfeier stattfindet. Das gleiche gilt für uns, wenn man das wirklich zusammen machen möchte. Und Einzelwettbewerbe zu transferieren, halte ich für despektierlich gegenüber denjenigen, bei denen das nicht gemacht wird. Das Olympische Dorf müsste um 10.000 Betten erweitert werden. Ich weiss auch nicht, ob es der paralympischen Bewegung gut tun würde. Jetzt stehen die Paralympics im Rampenlicht, die Menschen mit Behinderung, die Paralympischen Athleten. Parallel zu Olympia würde vieles unter den Tisch fallen. Deshalb bin ich gegen die gemeinsame Durchführung.

Über den Gesprächspartner

  • Der Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Behindertensportverbandes Dr. Karl Quade wird in Paris 2024 bereits zum 15. Mal als Chef de Mission das Team Deutschland Paralympics anführen. Auch als Athlet war Quade bereits drei Mal (1984, 1988 und 1992) bei den Paralympics. 1988 in Seoul gewann er die Goldmedaille mit der Volleyball-Nationalmannschaft. Seit 1996 agiert er als Chef de Mission.
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