Das Ziel, an den Spielen in Paris teilzunehmen, hat Thomas Röhler verpasst. Der Olympiasieger von 2016 in Rio de Janeiro hat die erforderliche Weite nicht gebracht. Trotzdem ist der 32-Jährige in Paris vor Ort und wird auch das Speerwurf-Finale live im Stadion anschauen. Einem Teilnehmer drückt er dabei besonders die Daumen. Zudem äussert er sich im exklusiven Interview zu Medaillen-Kandidat Leo Neugebauer.
Im exklusiven Interview mit unserer Redaktion beschreibt
Thomas Röhlers Olympia-Traum ist geplatzt
Herr Röhler, Ihr Traum von der Olympia-Teilnahme hat sich nicht erfüllt. Woran lag es?
Da muss man realistisch sein. Wir haben Gas gegeben und eine gute Vorbereitungsphase gehabt. Ich bin gut in die Wettkämpfe gestartet, habe aber nicht die Weiten rausgehauen, die nötig waren. In Italien hatte ich einen ungültigen Versuch. Die Weite wäre sicher die EM-Quali gewesen. Dann hätte die Sache anders aussehen können. Aber im Konjunktiv funktioniert die Welt definitiv nicht.
Ich bin aber nicht so enttäuscht, wie man glauben könnte. Ich bin vom 1. bis zum 10. August trotzdem in Paris, jedoch in anderer Funktion. Ich bin also sehr eng im olympischen Kosmos dabei. Aber die aktive Rolle wäre mir natürlich sehr viel lieber gewesen.
Nichtsdestotrotz ist es nicht vorbei. Ich habe im Jahr 2024 vor allem im technischen Bereich viel aufgeholt, was in den Jahren davor nicht funktioniert hat. Ich habe in diesem Jahr noch zwei, drei Wettkämpfe geplant.
In welcher Funktion werden Sie in Paris bei den Spielen sein?
Es ist ja kein Geheimnis, dass ich mir über die letzten Jahre ein sehr gutes, funktionierendes Partnernetzwerk aufgebaut habe. Inklusive Verbände, inklusive Partnerunternehmen, die auch bei den Olympischen Spielen Partnerunternehmen sind. Für die mache ich eine ganze Menge Behind-the-Scenes-Geschichten, arbeite mit Führungskräften, bringe Top-Managern den Sport näher. Ich freue mich darauf, ihnen vielleicht auch das Olympische Dorf zu zeigen. Paris wird wahrscheinlich unglaublich voll werden.
Thomas Röhler hofft auf Treffen in einem Café
Inwiefern werden Sie denn auch zum Team Kontakt aufnehmen?
Das muss man vor Ort sehen, wie nah man mit Akkreditierung herankommt. Du suchst Dir ja als Athlet heraus, wenn du das Dorf verlässt. Wenn du mal was anderes sehen möchtest, dann trifft man sich vielleicht mit dem einen oder anderen bei einem Partnerunternehmen oder einfach mal im Café.
Für viele Athleten ist es die Top-Story schlechthin, die Olympischen Spiele einfach mal zu erleben. Ich hatte das Riesenglück, bei den Olympischen Spielen zu gewinnen. Trotzdem habe ich eigentlich immer nur den Traum gehabt, sie zu erleben. Dementsprechend kann man nur jedem raten, der dort ist, jeden Moment aufzusaugen.
Sie stehen sehr eng mit den Speerwurf-Kollegen in Kontakt. Wird in Paris vielleicht auch von
Ich glaube, man hat sich vorher schon oft genug ausgetauscht. Ich war oft genug mit Julian in Trainingslagern. Mit Max hatte ich auch schon zwei, drei schöne Aufeinandertreffen. Wenn die Jungs cool bleiben, ist alles gut. Es gibt nicht den einen Rat. Es gibt nicht das Buch: "Wie werde ich Olympiasieger?"
Aber Sie glauben schon an Julian Weber?
Ich drücke ihm die Daumen. Aber physisch können im olympischen Speerwurf acht Männer und Frauen gewinnen. Am Tag des Wettkampfs entscheidet ganz viel der Kopf. Oder der Fuss, mit dem ich morgens aufstehe.
Der "schlechte Zuschauer" Thomas Röhler
Wie ist es denn für Sie, überhaupt dann nach Paris zu reisen und nicht aktiv sein zu können? Sie nehmen das relativ sportlich, weil Sie sich sicher auch mit dem Gedanken schon befasst haben. Aber Sie haben auch in unserem Interview im August 2023 gesagt, Sie seien ein ganz schlechter Zuschauer.
Ja, ich werde am Tag des Speerwurf-Finals im Stadion sein, das ist schon sicher. Und dann werde ich das verfolgen. Man kennt es aus Verletzungsphasen, man kennt es aus Wettbewerben, an denen man nicht teilnimmt, wie sich das anfühlt. Ich bin immer eher ein schlechter Zuschauer, weil man an die Sache gebunden ist. Andererseits, das haben Sie richtig gesagt, ich habe mich mit der Thematik schon sehr beschäftigt. Deswegen ist es okay.
Sie sagten auch vor elf Monaten, dass es nicht das Ende Ihres Planes sei, in Paris wieder bei Olympia zu sein. Jetzt sind wir elf Monate weiter. Wie sieht Ihr Plan jetzt aus, da es mit der Teilnahme nicht geklappt hat?
Ich weiss, dass das Speerwerfen wieder ganz gut funktioniert, wenn auch nicht zu 100 Prozent mit den Weiten, die man sich wünscht. Im Training und im Wettkampf haben wir wieder Weiten weit über 80 Meter präsentiert. Das war das, was ich mir selber als Ziel gesteckt habe, was sein muss. Jetzt müssen wir schauen, wie wir über den Winter kommen. Aktuell geht es darum, das technische Niveau, die Feinheiten immer weiter zu verbessern. Es muss noch mehr Tempo in den Ablauf. Ich muss mehr riskieren. Das dauert etwas nach einer so langen Verletzungsphase.
Das heisst, das System, von dem man ja so gerne spricht, funktioniert eigentlich wieder.
Das System insgesamt funktioniert technisch wieder. Unter langsamem Tempo bin ich mit vielen Würfen schon sehr zufrieden gewesen, bei hohem Tempo war ich noch nicht zufrieden. Das zeigt genau, woran man arbeiten sollte.
Deutschlands Gesellschaft besitzt keine Sport-Mentalität
Ich habe in einer Presserunde bei Eurosport mit deren Olympia-Experten Boris Becker und Fabian Hambüchen gesprochen. Sie unterstrichen, dass der deutsche Sport daran kranke, dass sich der Nachwuchs nicht mehr quälen möchte, dass das Leistungsprinzip verloren gegangen ist. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe das Problem im Sport selbst nicht derart gravierend. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das in den Sport reinschwappt. Umso mehr wir Leistung fordern und umso weniger die Gesellschaft über das Thema Leistung spricht, desto grösser wird im Endeffekt der Unterschied zwischen dem, was sich die Leute wünschen und dem, was die Gesellschaft insgesamt für richtig hält und für lebenswert befindet.
Wir sehen ganz viele Menschen, die sehr motiviert sind und sehr viel Leistungsbereitschaft an den Tag legen. Umso mehr individuelle Lösungen müssen entstehen. Ich bin Fan von Sportlösungen von kleineren Teams, die genau ein Zuhause für diese Menschen bieten, die es immer wieder geben wird. Es werden immer wieder Kinder in Sportlerfamilien aufwachsen, in denen einfach ein anderes Mindset ist, wo noch ein Drang nach Leistung oder nach Aufstieg durch Leistung da ist.
Den Sport, in den ich reingeboren wurde [Thomas Röhler kam ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung in Jena in der ehemaligen DDR zur Welt, am 30. September 1991, Anmerk.d.Red.], gibt es als System nicht mehr. Das ist nicht mehr da. Das funktioniert auch in dem Sinne nicht mehr. Und jetzt müssen wir Wege finden, wie wir die häufig abgelenkten Jugendlichen auffangen und auch den Eltern sagen, es ist okay, dreimal die Woche dasselbe zu machen, anstatt fünfmal die Woche etwas anderes, weil ansonsten kannst Du alles ein bisschen und nichts richtig.
Es gibt so viel Ablenkung, es gibt so viele Möglichkeiten. Es gibt in den Elternhäusern immer wieder die Diskussion, na gut, wir wollen ja noch Flöte spielen, wir wollen ja noch reiten, wir wollen ja noch Fussball, und Basketball soll er auch noch ausprobieren. Alles schön und gut. Es ist auch wichtig, das eine Phase lang zu machen. Aber irgendwann muss der Tag kommen, wo das Kind dann sagt, ich möchte am liebsten malen. Und dann wird es vielleicht, wenn wir Glück haben, ein richtig guter Künstler sein.
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Welche Wirkung, Herr Röhler, erhoffen Sie sich von den Spielen in Paris?
Nach den Covid-Jahren werden das emotionale Spiele. Es gibt wieder die Begegnungen, für die der Sport steht. Die Mitgliedszahlen der Vereine in Deutschland zeigen diesen positiven Trend. Ich glaube, die Spiele sind in dem Land, wo sie geschehen - wenn sie richtig gut durchgeplant sind - eine nachhaltige Geschichte. Mit dem Blick von aussen auf Paris scheint mir das der Fall zu sein. Die Sportstätten bleiben. Das Olympische Dorf ist Teil eines gesamten Stadtteil-Konzepts für nachhaltiges Leben und Lernen und Aufwachsen für viele Menschen. Da bleibt was.
Wie kann sich Deutschland etwas von den Spielen mitnehmen?
Einen goldenen Schlüssel habe ich nicht. Ich hoffe, dass wir eine geniale Berichterstattung haben, dass durch Zufall Kids das sehen, dass auch Wirtschaftsunternehmen das sehen, dass ein gewisser Förderkreislauf auch im olympischen Sport wieder angefeuert wird. Das ist sehr, sehr wichtig. Dann sind wir auf Geschichten angewiesen. Dann brauchen wir geile Geschichten. Dann brauchen wir spannende Charaktere. Ich glaube, es braucht gar nicht mal hunderte Goldmedaillen. Es braucht vielmehr wirklich spannende Sportgeschichten.
Thomas Röhler setzt auf Stars, die Olympia machen wird
Wer sind denn in der deutschen Leichtathletik gerade die spannenden Charaktere?
Es sind einige Nobodys am Start, wo es spannend sein wird zu beobachten, wie sie sich vor Ort präsentieren. Ob sie die Gelegenheit nutzen, wenn drei, vier Augen mehr auf sie gerichtet sind als bei nationalen Meisterschaften. Nach den Spielen werden wir über zwei, drei neue Namen sprechen, die ihren Platz in der Mannschaft ergattert und dann die Gunst der Stunde genutzt haben. Aber jetzt einzelne Namen zu nennen, das wäre nicht zielführend und ein falscher Druck von aussen. Jeder soll in Paris erstmal seinen Job machen, die Leidenschaft ausleben, und am Ende sprechen wir dann über Namen.
Lassen Sie mich trotzdem einen nennen:
Ja, unbedingt. Das ist ein Name, aber wo er im Sport gross geworden ist, wissen wir auch beide.
Das stimmt, das ist dann wieder die Kritik am deutschen Sportsystem. Denn Neugebauer studiert in den USA und ist im dortigen College-System gross geworden.
Das ist gar nicht mal Kritik, aber das ist die Frage, wie viel können wir dann wieder davon partizipieren. Ist ihm überhaupt nicht übel zu nehmen, ist für mich definitiv einer dieser Charaktere. Supersympathisch, viele identifizieren sich damit, er bringt all das mit, was man haben möchte. Und genau das, was wir jetzt identifiziert haben, kann von aussen als negativ sofort plakatiert werden, dass es im Endeffekt wieder negativ wirksam für den deutschen Sport ist und für das System.
Dann geht diese positive Wirkung, die er als Individuum schafft, komplett am System vorbei. Die Gefahr besteht definitiv. Was für mich in der Übersetzung nicht bedeutet, dass man die Freiheit der Athleten einschränken sollte und sagt, du musst hier trainieren. Deswegen stehe ich auch für private Teams, für private Lösungen. Ich bin auch happy, wenn er international Leute für Zehnkampf begeistert und er hat da was Geiles erreicht. Ich glaube, in der globalen Welt ist das auch ein sehr, sehr grosser Verdienst für einen Sportler.
Würden Sie unterschreiben, dass Deutschland im Speerwerfen von den Spielen eine Medaille mitnimmt?
Unterschreiben würde ich da überhaupt nichts. Ich drücke die Daumen, die Chancen stehen definitiv gut. Listen bedeuten im Vorhinein für Spiele wenig. Die Ausgangslage ist positiv. Die Jungs sind zu zweit, dann geht ein bisschen Druck von einer Schulter auf die andere. Andererseits ist Max einfach ein Newcomer, und da würde ich meine Erwartungsleitung komplett auf Null schrauben. Aber wenn er Spass am Wettbewerb hat und sein Fuss hält, dann sehen wir auch etwas von ihm. Und Julian muss einfach nur seinen Job machen.
Zur Person
- Thomas Röhler kommt am 30. September 1991 in Jena zur Welt. Ehe er sich zu einem der besten Speerwerfer entwickelt, widmet er sich dem Mehrkampf. Erst als 18-Jähriger wechselt Röhler zum Speerwurf. Sportlich ragen sein Olympiasieg in Rio de Janeiro 2016 und der Titel bei der Heim-EM 2018 in Berlin heraus. Seitdem plagen Röhler immer wieder Verletzungen. Olympia 2021 in Tokio und die WM 2022 in Eugene fanden ebenso ohne ihn statt wie die WM 2023 in Budapest und die EM 2024 in Rom. Röhler, Vierter bei den Deutschen Meisterschaften 2023 in Kassel und Zweiter 2024 in Braunschweig, erzielte für die Qualifikation zu den Olympischen Spielen in Paris nicht die geforderte Weite und wurde deshalb nicht für den Kader nominiert.
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