• Hilde Gerg gewann 1998 bei den Olympischen Spielen von Nagano Gold im Slalom und Bronze in der Kombination.
  • Auf die Olympischen Spiele in Peking blickt sie mit gemischten Gefühlen - auch aufgrund der Menschenrechtslage in China.
  • Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Gerg ausserdem, warum es keine Skifahrerinnen von ihrem Kaliber mehr gibt und was sie Lena Dürr bei den Olympischen Spielen zutraut.
Ein Interview

Frau Gerg, bei den Winterspielen in Peking sind ausländische Zuschauerinnen und Zuschauer von vornherein ausgeschlossen, es kann gut sein, dass es gar kein Publikum geben wird. Ein Zustand, den Sie nie erleben mussten. Wie wichtig ist aus Ihrer Erfahrung das Publikum beim Skifahren – und gerade bei Olympia?

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Hilde Gerg: Grundsätzlich ist die Stimmung bei einem Grossereignis wie Olympia mit Publikum natürlich besser. Auch für die TV-Bilder ist es wichtig, Publikum vor Ort zu haben, um die Begeisterung den Zuschauern vor den Fernsehern hautnah übermitteln zu können. In einer Pandemie, die wir jetzt schon seit einiger Zeit erleben, muss man aber als Sportlerin oder Sportler das Privileg anerkennen und annehmen, dass man den Sport, den eigenen Beruf ausüben kann, und froh darüber sein. Man muss sich einfach darauf einstellen, dass kein Publikum da ist, dass dieser Wettkampf fast schon Vereinsmeisterschaftscharakter hat, weil es so still ist und auch die persönliche Spannung und Nervosität gar nicht so aufkommt. Aber es gehört zum Sportlerleben dazu, dass man sich auf bestimmte, äussere Bedingungen einstellt. Für den Sportler selbst und seine Leistung ist es nicht relevant, ob Publikum vor Ort ist oder nicht.

Im Skisport spielt auch mentale Stärke eine grosse Rolle. Wie anstrengend, glauben Sie, ist es für die Sportlerinnen und Sportler, Nebenschauplätze der Olympischen Spiele wie einerseits Corona und andererseits Diskussionen um die Menschenrechte in China auszublenden?

Es ist sehr, sehr schwierig, wenn ich mich als Sportlerin auf Olympische Spiele vorbereite: Die sind alle vier Jahre, ich bin in Top-Form, ich habe mich qualifiziert, ich möchte mich natürlich nicht ablenken lassen, ich will mich auf mein Rennen fokussieren - und ich möchte natürlich auch dort hinfahren, weil ich vielleicht vorher noch nie an Olympischen Spielen teilnehmen durfte. Da liegt der Fokus voll auf dem Sport und da wird man sich nicht mit Fragen rund um Corona und Menschenrechten befassen. Das ist auch richtig so, denn man muss da schon sehr fokussiert sein. Wenn ich aber schon erfahrener bin, vielleicht schon das ein oder andere Mal an Olympischen Spielen teilgenommen habe und vielleicht sogar schon Medaillen gewonnen habe, dann werden mich diese Diskussionen nicht ganz so kaltlassen. Hab ich zum Beispiel schon eine Familie zu Hause, fühle ich mich unwohl mit dem Gedanken, dorthin zu reisen, fühle ich mich nicht gut genug beschützt, dann bin ich vielleicht auch nicht ganz so fokussiert. Ich glaube, das kommt immer auf jeden einzelnen an, wie gut man alles ausblenden kann.

Wie sehen Sie die Lage in China? Ergibt es Sinn, Olympische Spiele in einem Land auszutragen, in dem die Menschenrechtslage so problematisch ist?

Die Olympischen Spiele wurden schon vor einiger Zeit nach Peking vergeben, die Vergabe findet ja schon acht, neun Jahre vorher statt. In Deutschland zum Beispiel war es schwierig, Olympische Spiele durchzuführen, weil die Bevölkerung nicht mehr hinter der olympischen Bewegung steht. Wir haben im Grunde keinen Einfluss darauf, wohin die Olympischen Spiele vergeben werden. Die Wahl findet ja nicht in einer grossen Abstimmung statt, sondern in einem kleinen Kreis. Ich hoffe einfach, dass man aus den ganzen Diskussionen etwas lernt und bei den nächsten Spielen, die vergeben werden, nicht mehr nur das Geld im Auge hat, sondern auch die Gesamtlage.

In Ihrer gerade erschienenen Biografie "Der Slalom meines Lebens" geben Sie sehr persönliche Einblicke. Einschneidend - auch in Ihrer Schilderung - war für Sie aus privater wie sportlicher Sicht in jungen Jahren die Liebe zu Ihrem viel zu früh verstorbenen Ehemann Wolfgang Grassl, der seinerzeit aber auch Ihr Trainer war. Was würden Sie jungen Athletinnen oder Athleten raten, die plötzlich aus Liebe zu Trainer oder Trainerin in ein ähnliches "Dilemma" geraten?

Es ist natürlich immer schwierig, jemanden zu beraten, wenn man denjenigen oder auch das Umfeld nicht kennt, aber wichtig ist immer, dass man ehrlich zu sich selbst ist, die Gesamtlage abschätzen kann und natürlich auch das grosse Ganze sehen muss: Ist der Sport wichtig, ist das Private, Persönliche wichtig? Kann man Sport und Privates in dem Fall trennen? Das muss man sehr spezifisch in den einzelnen Situationen beantworten.

Juckt es Sie selbst noch manchmal in den Skistöcken – besser: Skischuhen? –, oder sind Sie eher froh, dass Sie sich den Stress nicht mehr geben müssen?

Mich juckt es schon sehr wieder nach Skistecken und Skischuhen und Ski und Winter und Schnee und Piste, aber nicht mehr im rennmässigen Tempo. Und das viele Reisen, das viele Trainieren würde ich auch nicht mehr aushalten. (lacht) Das habe ich jahrelang sehr intensiv betrieben. Also gerne Skifahren, aber nicht mehr Rennen.

Zu Ihrer Zeit herrschte im Team des DSV eine grosse Dichte an Weltklassefahrerinnen. Seit den Rücktritten von Maria Höfl-Riesch und Viktoria Rebensburg ist dem nicht mehr so. Vor allem fehlen Allrounderinnen Ihres Kalibers. Worauf ist das zurückzuführen?

Es ist immer schwierig zu eruieren, worauf es zurückzuführen ist, wenn man keine so schlagkräftige Mannschaft mehr hat. Man muss es vielleicht andersrum sehen: Wir hatten damals das Glück, dass wir eine sehr breite, sehr gute Mannschaft hatten. Da waren viele andere Fahrerinnen neben Martina Ertl, Katja Seizinger und mir, die Top-Fünf-Platzierungen eingefahren haben, die ständig unter den Top 15 waren. Das sind Dinge, die wahnsinnig wichtig für das Team sind, für die Weiterentwicklung. Man misst sich ja auch im Training aneinander. Wenn dort ein Super-Spirit herrscht und das Niveau hoch ist, lernst du natürlich viel mehr, schaust dir viel mehr von anderen ab. Allrounder gibt es allgemein nicht mehr so viele, weil sich ja die Skitechnik verändert hat und man mehr Spezialisten hat, die in ihren Disziplinen trainieren. Da bleibt man als Allrounder eher auf der Strecke. Das Spezialistentum hat sich durchgesetzt. Was beim deutschen Team noch dazu kommt: Mittlerweile werden auch im DSV die Trainingsbedingungen schwieriger. Es gibt nicht mehr so viel Platz auf den Gletschern. Durch Corona durfte man eine Zeit lang gar nicht in andere Länder reisen. Man konnte teilweise gar nicht trainieren. Das baut sich über mehrere Jahre auf, dass man in einem Weltcup vorneweg fährt. Aber ich glaube, dass sich aus der Flaute wieder etwas entwickeln kann. Man stellt was um und kommt wieder auf andere Trainingsmethoden, die dann die Leute auch wieder nach vorne bringen. Ich denke, da muss man einfach ein bisschen Geduld haben.

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Lena Dürr fährt im reifen Sportlerinnen-Alter von 30 Jahren plötzlich so konstant gut wie noch nie. Ist das alleine auf Erfahrung zurückzuführen? Was hat aus Ihrer Sicht in den Jahren vorher zum Durchbruch gefehlt? Und was trauen Sie ihr bei Olympia zu?

Das ist interessant, dass Lena so lange gebraucht hat, um ihr Können wirklich auf die Piste beziehungsweise bis über die Ziellinie zu bringen. Lena ist schon als sehr junges Mädchen im Weltcup gewesen und feierte teilweise super Erfolge. Sie hat eine Skitechnik, die - wenn sie funktioniert - wahnsinnig schnell ist, wie man jetzt sieht. Da braucht es aber nur ein kleines bisschen und schon ist sie nicht nur etwas langsamer, sondern gleich richtig langsam. Jetzt hat sie aber herausgefunden, wie sie das abstellen kann, und das freut mich total, dass sie das noch geschafft hat und da dran geblieben ist. Und was ich ihr bei Olympia zutraue: Ich glaube, sie ist total fokussiert, sie freut sich auf die Spiele. Sie geht da unbelastet hin und ich wünsche ihr einfach, dass sie zwei gute Läufe runterbringt. Und wenn sie dann das Glück hat, eine Medaille zu gewinnen, wäre das natürlich super.

Auch das Thema Naturschutz und Klimawandel beschäftigt den Skisport schon länger – macht es denn überhaupt Spass, auf einer beschneiten Piste zu fahren, während nebenan alles grün ist?

Naturschutz und Klimawandel sind allgemein ein grosses Thema. Das geht auch am Skisport nicht vorbei. Der Schnee zieht sich weiter nach oben zurück. Die Gebiete, in denen man Skifahren kann, werden kleiner oder auf einen engeren Zeitraum begrenzt. Das macht es auch im Rennsport schwieriger, überhaupt auf die Trainingseinheiten zu kommen. Das ist schon mit den ganz Kleinen schwierig. Grundsätzlich ist es aber schon so, wenn man gerne skifährt, dann macht es auch auf einer beschneiten Piste Spass. Es ist allerdings sehr viel gefährlicher, wenn sich alle Skifahrer auf einem weissen Band tummeln. Fährt einer von der Piste ab, liegt er schwerverletzt im Baum. Diese traumhaften Winterbedingungen, wenn die Bäume weiss sind, es frisch geschneit hat, man Pulverschnee hat und dann Skifahren kann, hat man inzwischen seltener. Aber ich fahre auch sehr gerne auf einer beschneiten Piste, um meinem Lieblingssport nachgehen zu können.

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