Sie ist das Gesicht des deutschen Frauen-Fussballs und die erfolgreichste Trainerin aller Zeiten. Und trotzdem will Silvia Neid immer noch mehr. Helfen soll ihr bei der WM in Kanada eine neu entdeckte Lockerheit. Ein Portrait.

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Seit mehr als 30 Jahren bewegt sich Silvia Neid, 51, im Profigeschäft - oder dem, was es zu Beginn ihrer Karriere noch war. Nämlich gehobener Freizeit-Fussball der Damen, von der männlichen Gegenseite nicht selten belächelt und von den Medien kaum wahrgenommen.

Sie ist die Frau der ersten Stunde: In der Bundesliga und in der Nationalmannschaft. Im ersten Länderspiel einer DFB-Auswahl überhaupt wurde sie im Spätherbst 1982 kurz vor der Halbzeit eingewechselt - eine Minute später erzielte sie gleich ihr erstes Tor für Deutschland.

Mitte der 80er Jahre gelang ihr der erste Hattrick in der DFB-Geschichte, innerhalb von nur 180 Sekunden. Neid war da längst Rekordnationalspielerin, die Nummer zehn, die Spielführerin, der verlängerte Arm des damaligen Bundestrainers Gero Bisanz. Als Kapitänin führte sie die DFB-Auswahl 1989 zum ersten grossen Titel bei der Europameisterschaft und zur ersten WM zwei Jahre später.

Von null auf hundert

Parallel dazu sammelte sie mit ihren Klubs TSV Siegen und SGG Bergisch Gladbach sieben deutsche Meisterschaften und sechs Pokalsiege. Bei Olympia 1996 beendete sie ihre eindrucksvolle aktive Karriere und wechselte auf sanften Druck des damaligen Herren-Bundestrainers Berti Vogts sofort auf den Trainerstuhl. Als Co-Trainerin kürte sie sich zum Weltmeister und noch dreimal zum Europameister, ehe sie vor fast genau zehn Jahren auf den Posten der Cheftrainerin rückte.

Spätestens jetzt stand sie medial immer mehr im Fokus. Zur "schönsten Frau des deutschen Fussballs" wurde sie vom Boulevard gemacht. Mitte der 90er Jahre gab es sogar ein Angebot des Männermagazins "Playboy", eine fünfstellige Summe wurde ihr dafür angeboten - ein Vielfaches von dem, das sie damals verdiente. Neid lehnte ab.

Ihre Bodenständigkeit konnte ihr auch der aufgeregte Fussball-Zirkus nicht nehmen. Sie hat den erdigen Beruf der Fleischfachverkäuferin gelernt, später in einem Blumenhandel gearbeitet und sich zur Grosshandelskauffrau ausbilden lassen. Danach ging es noch eine Weile zu einer grossen deutschen Gesundheitskasse.

Herbe Enttäuschungen

Dass sie bis heute an allen zehn Titelgewinnen der deutschen Nationalelf beteiligt war - als Spielerin und mit 111 Einsätzen, als Co-Trainerin und Bundestrainerin - wird gerne unterschlagen. Vor vier Jahren musste sie die herbste Enttäuschung ihrer Karriere hinnehmen, als sie mit ihrer Mannschaft bei der Heim-WM bereits im Viertelfinale scheiterte.

Der weitgehende Verzicht auf Kapitänin Birgit Prinz wurde ihr zum Vorwurf gemacht, in den Tagen danach leistete sie sich einige Fehltritte, wirkte bockig und uneinsichtig und stand plötzlich als schlechte Verliererin da.

Der aufgeblasene Hype um sie und ihre Mannschaft - im Vorfeld hatte sogar Spielzeughersteller "Mattel" eine "Silvia-Neid-Barbie-Puppe" auf den Markt gebracht - schlug ins Gegenteil um. Die mediale Schelte hatte sie gehörig ins Wanken gebracht, an einen vorzeitigen Rücktritt wollte Neid aber nicht denken. Zwei Jahre später holten sie und ihre Mannschaft den achten EM-Titel für den DFB.

Das Ende einer Karriere

Nun wird die Weltmeisterschaft in Kanada womöglich ihr letztes grosses Turnier. Das Viertelfinale gegen Frankreich entscheidet auch darüber, ob es die DFB-Auswahl zu Olympia 2016 schafft. Danach würde sie ihr Amt an Steffi Jones übergeben und in den Scoutingbereich beim DFB wechseln. Scheitert Deutschland an den Französinnen, ist auch ein vorzeitiger Abschied denkbar.

Vielleicht ist es die Aussicht auf den ruhigeren Job, weit weg vom Rampenlicht, der sie in ihrer Aussendarstellung ein wenig verändert hat. Da sind immer noch ihre weissen Perlohrringe, die adretten Hosenanzüge, ihre zierliche Erscheinung. Dazu gekommen sind aber auch eine gewisse Lockerheit und Gelassenheit.

In Kanada gibt sich Neid auch in brenzligen Phasen gelöst wie nie, ohne dabei aber Detailversessenheit und ihre Aggressivität an der Linie zu vergessen. "Es ist wirklich so, dass ich das alles viel mehr geniesse, und zwar jeden Tag. Ich spüre hier überhaupt keinen Druck, nur Freude, dass ich mit so tollen Spielerinnen arbeiten darf", sagte sie vor dem Spiel gegen Frankreich. Und man darf ihr jedes einzelne Wort auch glauben.

Der dritte WM-Stern soll es sein

Andererseits spielt sie auch immer noch ihre Rolle, das wird sie in den letzten Monaten ihrer Amtszeit nicht los. Sie verfolgt ein Ziel und will es mit allen Mitteln erreichen. "Der dritte WM-Stern ist für mich ein Traum", sagt sie und man erkennt die Gier in ihren Augen, mit der sie dieses Ziel verfolgt.

Die Partie gegen die als Geheimfavorit gehandelten Französinnen wird der Knackpunkt. Denn selbst der zweifachen Fifa-Trainerin des Jahres fehlt noch ein Titel in ihrer imposanten Sammlung: Die Goldmedaille bei Olympia. Silvia Neid würde das natürlich nie zugeben, aber sie hätte gerne diese Vollkommenheit, die sonst noch niemand erreicht hat im Frauen-Fussball.

Trotz ihrer neuen Offenheit und Lockerheit bleibt sie schwer zu greifen und für Aussenstehende immer auch der nüchterne Kontrollfreak. Der Job geht eben vor. Das war schon immer so. Aber das ist ja auch der Stoff, aus dem Gewinner gemacht sind.

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