Das sogenannte Potenzialanalysesystem sorgt im Spitzensport immer wieder für Diskussionen. Denn es ist die Grundlage für die Verteilung von Geldern. Der Sportdirektor des Deutschen Badminton Verbandes schlägt Alarm, es geht nicht nur um seine Sportart.

Eine Analyse
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Wenn es ganz blöd läuft, steht das deutsche Badminton im Herbst ohne Trainingsbälle da. Was sich unglaublich anhört, könnte im schlimmsten Fall tatsächlich bittere Realität werden.

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In jedem Fall sieht sich das deutsche Badminton mit der schonungslosen Bestandsaufnahme einer olympischen Sportart, die um ihre Existenz kämpft, konfrontiert - ausgelöst durch die drastische Kürzung der Fördermittel aufgrund des sogenannten Potenzialanalysesystems, kurz "PotAS". 200.000 Euro weniger hat der Verband jetzt zur Verfügung.

Das sind satte 40 Prozent des Budgets, die wegfallen.

Deshalb wurde die Teilnahme an der Team-WM Ende April abgesagt, obwohl die Qualifikation geglückt war. 50.000 Euro hätte die Reise nach China gekostet. "Das Geld reicht einfach nicht, denn sonst können wir die Athleten nicht mehr auf andere Turniere schicken", sagt der kommissarische Sportdirektor Martin Kranitz im Gespräch mit unserer Redaktion.

Das Ganze entwickelt sich dann schnell zu einem Teufelskreis, denn weniger Turniere sind gleichbedeutend mit weniger Weltranglistenpunkten und am Ende auch weniger Chancen auf Olympiaplätze. Was dann zwangsläufig zu weiteren Kürzungen führen würde.

Im September gehen die Gelder aus

Dass Kranitz das Ganze als "schwierige Phase" bezeichnet, ist fast schon höflich ausgedrückt. Schon im September könnten dem Verband komplett die Gelder ausgehen. "Und wenn eine Sportart Basics nicht mehr machen kann, halte ich das für unheimlich problematisch", sagt Kranitz, der glaubt, dass eine Grundsatzdiskussion, welche olympische Sportarten noch gefördert werden sollen und welche nicht, dringend geführt werden muss.

Das Potenzialanalysesystem wurde 2016 vom Bundesinnenministerium und dem Deutschen Olympischen Sportbund entwickelt, um die Fördergelder des Bundes stärker anhand von Erfolgserwartungen und Medaillenchancen zu verteilen. Ende vergangenen Jahres wurden den olympischen Sommersportverbänden rund 41 Millionen Euro für das Jahr 2025 in Aussicht gestellt.

Diese Entscheidung basiert auf einer gemeinsamen Empfehlung einer Förderkommission, die aus Mitgliedern des Innenministeriums und des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) besteht.

Das Potenzialanalysesystem bildete die Grundlage für die Empfehlung. Dabei fliessen der sportliche Erfolg, das Kaderpotenzial und die Struktur der jeweiligen Verbände die Faktoren in die Analyse ein. Doch PotAS sorgt regelmässig für Ärger und Diskussionen, denn die Prognosen wurden durch die Realität teilweise ad absurdum geführt.

"Das macht mich von Jahr zu Jahr sprachloser"

Die beiden krassesten Beispiele: Nachdem der Deutsche Leichtathletik-Verband im letzten Bericht 2021 am besten und die Basketballer am schlechtesten bewertet wurden, gab es für die Leichtathleten bei der WM 2023 keine einzige Medaille, die Basketballer aber wurden im gleichen Jahr Weltmeister und die 3x3-Frauen 2024 Olympiasiegerinnen.

"Das macht mich von Jahr zu Jahr sprachloser. PotAS tut dem deutschen Sport absolut nicht gut. Das muss auch nicht mehr überarbeitet werden, bitte einfach abschaffen", sagte DBB-Präsident Ingo Weiss der Deutschen Presse-Agentur.

Kritik kommt auch aus den Sportarten Judo, Volleyball und Leichtathletik, die Kürzungen, teilweise in Millionenhöhe, verdauen müssen. In der 2024 neu berechneten Rangliste der Sommer-Sportdisziplinen haben sich die Basketball-Weltmeister jetzt auf Rang 15 verbessert, die 3x3-Olympiasiegerinnen auf Rang neun.

Vorne liegen Dressurreiten, die Hockey-Herren und der Kanurennsport der Männer in der Kajakdisziplin. "Wieso wird der DBB, der so erfolgreich ist, mit Platz 15 bestraft?", fragte Weiss. Er kritisierte, dass man nicht so recht wisse, wie die Berechnung funktioniere.

Badminton hat keinerlei Potenzial

Tatsächlich musste sich auch Kranitz in die Materie reinfuchsen, um zum Beispiel zu verstehen, warum Badminton ein Potenzial von 0,0 Prozent bescheinigt wurde. Laut "PotAS" hat Badminton also keinerlei Potenzial im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2028.

Das zeige zwei Probleme, so Kranitz. "Die Komplexität, die der Sport in seinen Facetten hat, lassen sich nicht über ein Berechnungsmodell simpel abbilden. Die Kommission nutzt aber ein standardisiertes Verfahren, das keinerlei Besonderheiten berücksichtigt. Und wenn es Besonderheiten gibt, so wie bei uns, trifft es uns, und zwar heftig", betont er.

Topspieler Mark Lamsfuss hat fraglos Potenzial, das er mit Medaillen bei WM und EM auch bereits nachgewiesen hat, laborierte aber an einer langwierigen Knieverletzung, die bei Olympia in Paris ein frühes Aus zur Folge hatte. Dazu finden die meisten wichtigen Turniere in Asien statt, doch aus Kosten- und Belastungsgründen können die Athleten gar nicht alle spielen.

"Was sich aber viel schlimmer auswirkt: Die Kommission nimmt die Weltrangliste als Grundlage und berechnet dann die Wahrscheinlichkeit, ob man in Los Angeles die Top acht oder Top drei erreicht", erklärt Kranitz.

Und da Lamsfuss in der Weltrangliste böse abgestürzt ist und auch sonst im Moment niemand vorne platziert ist, steht bei Potenzial eine desaströse "0,0" bei Badminton Männern und Frauen - als einzige von insgesamt 99 Disziplinen. Die Folge ist der Absturz auf die Gesamtplätze 82 und 87. Und damit einher gehen die herben finanziellen Einschnitte.

Interessant dabei: Gespräche der PotAS-Kommission mit den Verantwortlichen der Sportarten "waren ursprünglich der Plan, aber aus Zeitgründen hat man darauf verzichtet", verrät Kranitz. Nach Paris war das Zeitfenster bis zum 1. Januar 2025 zu klein. "Aber keine Frage: Wenn man Strukturgespräche geführt hätte, wäre am Ende vielleicht einiges anders gelaufen", meint der Sportdirektor.

Zeit der Ungewissheit für die Athleten

Für die Athleten ist das eine Zeit der Ungewissheit, "weil wir die Kosten vorstrecken müssen, weil wir nicht wissen, ob wir sie finanziert bekommen", sagt Fabian Roth, als Weltranglisten-82. aktuell der beste Deutsche.

In vielen Fällen sind dann keine Trainer dabei, keine Physiotherapeuten. Für eine Asientour kommen an eigenen Kosten schon mal 2.000 bis 2.500 Euro zusammen. Die Möglichkeiten, sich zu wehren, sind begrenzt.

"Es gibt die 'Athleten Deutschland', die kämpfen für uns. Aber die Frage ist, inwieweit sie einen Einfluss haben oder gehört werden von der Politik. Denn die entscheidet, welches Geld in den Sport fliesst", so Roth.

Kranitz schlägt deshalb Alarm. Denn an Sponsoren-Gelder zu kommen, ist schwierig, da die Sportart grundsätzlich schon nicht im Rampenlicht steht. Bei ausbleibendem Erfolg wird es noch komplizierter. Und klar ist auch, dass der Verband mit seinen 180.000 Mitgliedern auch nicht das ganze Geld in den Leistungssport stecken kann, wobei gleichzeitig der Nachwuchs unter den Problemen leidet.

"Das heisst, wir müssen jetzt Entscheidungen treffen, worauf wir verzichten", so Kranitz. "Es ist fünf vor zwölf, was die Finanzierung angeht." Das Problem: Es werde dann existenziell, wenn die Olympia-Qualifikation losgehe, denn dann müsse man mehr Turniere spielen, um konkurrenzfähig zu sein, sagt er. Denn sonst schlägt PotAS irgendwann wieder unbarmherzig zu.

System in einer Sackgasse?

Wie soll es weitergehen? Es hat den Anschein, als stecke das System in einer Sackgasse. Änderungen wurden zwar angekündigt, "doch solange das System so standardisiert ist und ganz, ganz viele Fehler beinhaltet, wird es wahrscheinlich eher noch schlimmer werden", glaubt Kranitz.

Als Grundlage für eine Bewertung halte er PotAS für geeignet, "aber dass es ohne nach rechts und nach links zu schauen genutzt wird und alles abrasiert, was nicht berücksichtigt werden kann, halte ich für nicht richtig".

Eine Grundsatzdiskussion ist in Deutschland unabdingbar. Will man eine breite Vielfalt an olympischen Sportarten oder nur ein paar wenige, die gezielt gefördert werden? "Es wäre aber traurig für ein Land wie Deutschland, wenn wir uns keine Vielfalt mehr leisten würden, dafür müsste man sich schämen", sagt Kranitz, der eine "einzige sinnvolle Lösung" ausmacht: "Dass Deutschland die Olympischen Spiele austrägt. Das würde den ganzen Prozess nochmal verändern." Damit einzelnen Sportarten nicht tatsächlich die Trainingsbälle ausgehen.

Über den Gesprächspartner

  • Martin Kranitz war im Deutschen Badminton Verband ab 1999 zunächst Referent Leistungssport, ehe er von 2007 bis 2024 als Sportdirektor tätig war. Da sein Nachfolger inzwischen wieder ausgeschieden ist, hat er das Amt kommissarisch erneut inne, bis ein neuer Sportdirektor gefunden wird.

Verwendete Quellen