Patrik Kühnen ist beim Tennis-Turnier von Wimbledon als Experte von Sky (der Pay-TV-Sender überträgt live) im Einsatz. Im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion spricht er über die Chancen des deutschen Stars Alexander Zverev sowie über die schwierige Situation im deutschen Damen-Tennis.
Herr Kühnen, es gibt im Tennissport vier grosse Grand-Slam-Turniere. Dennoch scheint Wimbledon mehr als jedes andere Turnier im Fokus zu stehen. Was ist der Grund dafür?
Patrik Kühnen: Wimbledon hat eine grosse Tradition und damit auch eine besondere Strahlkraft. Viele Fans und auch Tennisspieler, die nun selbst auf dem Platz stehen, haben bereits früher grosse Matches von Wimbledon gesehen. Aus deutscher Sicht bleiben vor allem die Wimbledon-Siege von
In Wimbledon wird auf Rasen gespielt. Was macht diesen Belag so besonders?
Rasen ist ein weicher Belag, daher springt der Ball deutlich flacher ab. Allerdings hängt das auch ein bisschen vom Wetter ab. Wenn zehn Tage die Sonne scheint und es kein Regen gibt, ist die Erde etwas härter, sodass der Ball nicht ganz so flach abspringt. Grundsätzlich aber ist aus Sicht der Spieler der Körperschwerpunkt niedriger als zum Beispiel auf Sand.
Top-Favorit Novak Djokovic in ausgezeichneter Form
Ja, er ist aus meiner Sicht der Top-Favorit. Nicht nur, weil er in den letzten vier Jahren gewonnen hat, sondern weil er sich auch jetzt in einer ausgezeichneten Form befindet. Er hat in diesem Jahr bereits die Australian Open und die French Open gewonnen. Bei beiden Turnieren hat er wieder bewiesen, dass er vor allem bei den Grand-Slam-Turnieren, bei denen über fünf Sätze gespielt wird, schwer zu schlagen ist. Über die Länge dieser Partien kommt seine Qualität besonders zur Geltung. Gefährlich werden kann ihm meiner Einschätzung nach vor allem
Ist Djokovic der beste Tennisspieler aller Zeiten?
Er hat 23 Grand-Slam-Turniere gewonnen und somit mehr als jeder andere. Das ist Fakt. Aber ich bin kein Freund davon, die Spieler aus unterschiedlichen Zeiten miteinander zu vergleichen. Die Qualität der Schläger hat sich verändert, die Tennissaiten haben sich verändert, das Spiel hat sich verändert. Es gab auch früher grosse Champions, die die Menschen begeistert haben. Aber die Zahlen sprechen für Djokovic, das ist klar.
Wie schätzen Sie die Chancen von
Alexander Zverev hat mit seiner Halbfinalteilnahme bei den French Open ein ganz wichtiges Ziel erreicht, weil er dadurch seinen Platz in der Weltrangliste verteidigt hat. Er kann nun voll auf Angriff spielen. Alles, was er jetzt an Punkten generiert, hilft ihm, um in der Weltrangliste nach vorne zu klettern. Er hat beim Turnier in Halle das Halbfinale erreicht, kommt also auf Rasen immer besser zurecht. In der Vergangenheit gelang ihm in Wimbledon zwar noch nicht der grosse Durchbruch. Ich traue ihm das aber zu.
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Wie schätzen Sie die Situation bei den Damen ein? Wer ist die Top-Favoritin?
Bei den Damen ist es meiner Einschätzung nach spannender als bei den Herren, weil es einige Kandidatinnen gibt. Die letztjährige Siegerin Elena Rybakina sehe ich im absoluten Favoritenkreis, ebenso wie Aryna Sabalenka, Iga Swiatek und Ons Jabeur.
Keine deutsche Spielerin in den Top-50
Während sich der deutsche Top-Star Angelique Kerber in der Babypause befindet, rangiert aktuell keine deutsche Spielerin in den Top-50. Die höchstplatzierte Deutsche ist derzeit
Es gibt immer wieder Zyklen. Man muss den Talenten auch ein bisschen Zeit geben. Wir wünschen uns natürlich, dass das besser wird. Aber wir haben im letzten Jahr gesehen, dass die deutschen Damen in Wimbledon über sich hinauswachsen können. Jule Niemeier hatte das Viertelfinale erreicht, Tatjana Maria das Halbfinale. Ich bin auf die Rückkehr dieser beiden Spielerinnen gespannt.
Wie beurteilen Sie die Situation im deutschen Nachwuchs? Kommen dort potenzielle Top-Stars nach?
Wir haben bei den Juniorinnen und Junioren sicherlich genügend Talente. Aber ich bin kein Freund davon, bei 15- oder 16-Jährigen vorherzusagen, wo das hinführen wird. Der Sprung vom Jugend-Tennis zum Profi-Tennis ist ein grosser Schritt. Und erst dann entscheidet sich, wo der Weg hinführt. Grundsätzlich haben wir in Deutschland gute Voraussetzungen, um junge Talente zu fördern, sodass sie den Sprung schaffen können.
Tennis erlebte in den 1980er und 1990er Jahren einen grossen Boom in Deutschland. Ähnlich wie die Sportarten Boxen und Formel 1, die damals ebenfalls sehr populär waren, tut sich der Tennissport hierzulande derzeit etwas schwerer, die breite Öffentlichkeit zu begeistern. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Meine Wahrnehmung ist, dass Tennis wieder einen Aufschwung erlebt hat – vor allem auch in der Corona-Krise. Die Mitgliederzahlen sind in dieser Zeit gestiegen. Diese Entwicklung findet bereits seit fünf bis acht Jahren statt. In der öffentlichen Wahrnehmung würde es natürlich helfen, wenn wir in Deutschland wieder Grand-Slam-Champions hätten. Die hatten wir damals mit Steffi Graf, Boris Becker und Michael Stich. Auch die Erfolge im Davis Cup und im Fed Cup waren damals hilfreich. Ich finde aber nicht, dass der deutsche Tennissport ein Problem hat. Wir haben in Deutschland viele tolle Tennisvereine. Das ist ein Sport, der vom jungen bis zum hohen Alter gespielt werden kann und eine hohe soziale Wertigkeit hat. Und auch das Fernsehangebot ist gut. Sky überträgt 400 Stunden Wimbledon und deckt die ganze ATP-Tour ab. Wer in Deutschland Tennis sehen möchte, hat dafür sehr gute Möglichkeiten.
Letzte Frage: Wie werden Sie als TV-Experte von Sky die zwei Wochen im Wimbledon erleben?
Sky hat uns direkt in Wimbledon ein Haus gemietet, wo wir alle vom Sky-Team gemeinsam praktisch eine WG haben. Die Wege von dort zu den Tennisplätzen sind kurz. Wir sind ohnehin von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends auf der Anlage. Auch sehr viele Spielerinnen und Spieler wohnen in den zwei Wochen dort.
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