Die Schauspielerin Katja Riemann engagiert sich seit Jahren für humanitäre Projekte und reist mit Menschenrechtsorganisationen in Krisengebiete auf der ganzen Welt. Sie möchte den Menschen eine Stimme geben und ihre Geschichten erzählen. Über ihre Erlebnisse und Begegnungen hat sie nun ein Buch geschrieben.
Katja Riemann, eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen, ist seit 2000 als UNICEF-Botschafterin aktiv. Insbesondere die Rechte von Mädchen und Frauen sind ihr ein Anliegen.
Liebe Frau
Katja Riemann: In meinem Buch spreche ich nicht über mich, sondern über das, was ich gesehen habe. Wir haben in Rumänien Projekte besucht, die sehr beeindruckend waren. Unter anderem sind wir in ein kleines Pflegeheim gekommen, wo überwiegend geistig behinderte Menschen lebten. Die Betreuer versuchten, sie zu grösstmöglicher Selbstständigkeit anzuleiten.
Ich habe schliesslich gefragt, woher die Kinder und Jugendlichen kämen, daraufhin gab es zunächst Stille und dann sagte man mir: "Unsere Kinder kommen zumeist aus Negru Vodă", einer Institution aus den Zeiten des Diktators Ceaușescu. Ich bat darum, diese zu besuchen, wenn es möglich sei.
So warfen wir unseren Terminplan um und fuhren hin. In der Institution von Negru Vodă lebten fast 200 körperlich und geistig behinderte Menschen, sowohl Erwachsene als auch Kinder. Als wir hineingingen, schlug mir der Geruch von Urin entgegen. Es gab nicht für alle Betreuten Windeln, also nahm man Lappen, gab es keine Lappen, liess man es unter sich gehen.
Ich habe Menschen gesehen, die aussahen wie Kinder, aber seit 21 Jahren im selben Gitterbettchen lagen. Ein paar Jahre nach unserer Projektreise nach Rumänien wurde Negru Vodă aufgelöst und die Menschen wurden in kleineren Heimen untergebracht, so dass jeder individuell bis zu seiner maximalen Selbstständigkeit lernen und leben konnte.
Sie sind seit 20 Jahren mit Menschenrechtsaktivisten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Kontakt. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit UNICEF?
Ich bekam 1999 einen Anruf von Claudia Berger, einer Mitarbeiterin von UNICEF, die eine Gala im Fernsehen plante. Man wollte die westafrikanische NGO Tostan vorstellen, die noch relativ jung war und deren Direktorin extra aus Dakar anreiste. Claudia war auf der Suche nach einer Art Paten, der das Projekt vorstellt. Aber alle sagten ab, mit der Begründung, das Thema Mädchenbeschneidung sei ihnen zu grausam. Ich sagte zu und so habe ich Molly Melching kennengelernt.
Molly Melching arbeitet mit ihrer NGO Tostan im Senegal. Sie haben sie mehrfach besucht und viel über die Projekte erfahren. Wie können wir uns die Arbeit vorstellen?
Molly hat Tostan 1991 gegründet. Die Idee dahinter ist, die Menschen in den Dörfern, und vor allem Frauen, über ihre Menschenrechte aufzuklären. Um dann ihre Lebensbedingungen zu beleuchten und ihnen Mittel an die Hand zu geben, die sie innerhalb ihrer Gemeinschaft anwenden können.
Ein Punkt, den ich dabei ganz besonders liebe, nennt sich Management. Wie manage ich mein Dorf oder erhalte einen Mikrokredit, um Starthilfe für ein eigenes Business zu bekommen? Wir sprechen hier zum Beispiel von 50 Dollar und dem Kauf eines Stückes Land und Saatgut.
Im Laufe des Programms kommt man zu dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. In diesem Zusammenhang wird Mädchenbeschneidung thematisiert: Warum sterben die Kinder und Mütter im Kindsbett? Warum haben Frauen oft Infektionen und sind müde? Warum sind die Menstruation, das Urinieren und der Sex schmerzhaft?
Die Brunnen zum Wasserholen funktionieren im Senegal, sagen wir mal, wie ein Marktplatz oder eine Boulevardzeitung. Hier tauschen sich die Dörfer untereinander aus und entscheiden gemeinsam, die Beschneidung ihrer Mädchen abzuschaffen.
Denn wenn ein Dorf das im Alleingang macht, können die Mädchen von dort keine Jungen mehr aus den anderen heiraten – dort gelten sie dann als unrein. Also beschliessen es alle gemeinsam mit einer sogenannten "déclaration" und sorgen so für ein stabiles Zusammenleben. Inzwischen haben über 8.000 Dörfer in sechs Ländern eine "déclaration" zelebriert.
Sie beschreiben sich selbst als schüchternen Menschen, der Menschenmassen meidet. Die Begegnungen, von denen Sie schreiben, sind jedoch sehr intensiv. Welche sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Als Erstes fallen mir die Kinder im Krankenhaus von Dr. Matusa in Rumänien ein. Kinder, die partiell seit ihrer Geburt dort wohnten. In Zimmern mit acht Betten, wo man über die vorderen klettern musste, um an die anderen ranzukommen. Die Kinderchen sind an mir hochgeklettert, ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Sie haben mir meine Berührungsangst und Schüchternheit genommen. Denn sie hatten keine Zeit, schüchtern zu sein - sie waren HIV-positiv oder hatten Aids.
Oder die Frau auf meiner ersten Reise in den Senegal. Wir sassen auf einem umgekippten Baum und sie erzählte mir die Geschichte einer Frau, die in ihrem Dorf ausgegrenzt wurde, weil sie nicht beschnitten war. Sie hat sich dann mit 20 Jahren beschneiden lassen und ist daran verblutet. Die Frau, die mir diese Geschichte erzählte und dabei meine Hand hielt, sagte abschliessend: "Wir haben uns alle mitschuldig gemacht."
Oder die Begegnung mit der Mutter Ouréye Salls, einer ehemaligen Beschneiderin. Ouréye hat ihren Beruf nach 20 Jahren aufgegeben, weil sie durch das "Community Empowerment Program" von Tostan erst die weitreichenden Konsequenzen der Beschneidung, FGC oder FGM genannt, realisierte. Sie wurde an der Seite von Molly Melching Aktivistin und fuhr mit ihr um die Welt, um Vorträge zu halten. Die Mutter von Ouréye arbeitete jedoch ihr Leben lang als Beschneiderin. Ich traf sie in ihrer kleinen Hütte, eine zarte Frau über 80. Wir sassen gemeinsam auf dem Boden, hielten unsere Hände und sie weinte still. Sie hat sich geschämt für etwas, das sie in gutem Glauben und in guter Absicht tat, und nicht mehr zurückzunehmen war.
Ihre Tochter war zur Zeit Ihrer Rumänienreise in einem ähnlichen Alter wie die Kinder, die Sie im Heim kennengelernt haben. Haben Ihre Reisen und die Arbeit mit den NGOs Ihre Sicht auf die Erziehung und auf die Welt verändert?
Meine Tochter ist ein paar Jahre später mit auf Projektreisen gefahren, nach Senegal und Burkina Faso. Auch für sie waren diese Reisen eindrücklich und bereichernd.
Und ja, ganz sicher hat diese Art der Begegnung mit der Welt und dem globalen Süden etwas mit mir gemacht.
Viele Menschen denken, sie könnten alleine nichts bewegen. Wenn wir uns aber Menschrechtsaktivisten wie Molly Melching oder auch Maggie Barankitse ansehen, die mit ihren Kinderheimen Tausenden geholfen hat: Es ist unglaublich, was sie alleine bewegt haben. Trotz ihrer brutalen, grausamen Geschichte. Können Sie sich erklären, woher sie diese Kraft nehmen?
Ich weiss nicht genau, ob das eine Kraft ist oder einfach eine Haltung dem Leben und den Gegebenheiten gegenüber. Das ist eng verknüpft mit der Frage, die Sie vorher gestellt haben. Wie die Sicht des Einzelnen auf die Welt ist. Wenn du Veränderungen möchtest, warum fängst du nicht selbst damit an?
Die Humanitären sind freundlich, respektvoll, sanft, sie hören zu und versuchen mit kleinen Schritten Dinge zu bewegen. Davon kann man sich inspirieren lassen. Und man bedenke: deren Gegenüber ist nicht ein Nörgler im Berliner Stadtverkehr, sondern möglicherweise einer mit einer Kalaschnikow.
Finden Sie, dass der Westen oft überheblich mit Afrika umgeht? Den Menschen nicht auf Augenhöhe und mit Respekt begegnet? Vielleicht auch mit einer Erwartungshaltung, die der Kontinent so noch gar nicht erfüllen kann, weil die meisten Länder erst ab den 1960er-Jahren unabhängig wurden.
Mein Buch ist kein politisches Buch, sondern ein Sachbuch über menschenrechtliche Arbeit im Feld, ich versuche erfahrbar zu machen, wie humanitäre Arbeit vor Ort vonstatten geht, ganz konkret. Sicher berührt das immer wieder mal Politik. Ihre Frage jedoch zielt auf ein politisches Gesamtereignis. Wie betrachtet der europäische Kontinent den afrikanischen Kontinent? 60 Jahre nach der Dekolonialisierung, was noch kein Menschenleben ist.
Wie Sie wissen, investiert die chinesische Regierung, als grösste Volkswirtschaft der Welt, massiv in den Kontinent, beispielsweise im Kongo. Ich weiss aber nicht, wie sehr man hier an einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe interessiert ist. Bleibt die Frage, was ist die Haltung Europas und der EU dazu, wenn sie sich mal mit einem anderen Thema als dem Brexit beschäftigen.
Wie geht Wirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent? Die Grenzen zu schliessen, für 105 Geflüchtete, wovon 50 Kinder sind, ist das eine, doch wenn in umweltlichen Belangen politisch nicht aus dem Knick gekommen wird, werden Millionen Menschen kommen, da will ich dann die Grenzen sehen. Ich kenne mich nicht mit Wirtschaft aus, ich habe nur mit ein paar Geschäftsleuten gesprochen, die wirklich interessante Projekte in diversen afrikanischen Ländern initiiert haben, fair, ökologisch, international und ertragreich für alle Beteiligten, da müsste doch etwas gehen.
Bleiben wir doch im Kongo. Sie haben die Chance gehabt, Doktor Denis Mukwege kennenzulernen, dem 2018 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Er hat Ihnen Geschichten erzählt, die jegliche Vorstellungskraft übersteigen. Wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können …
Ich habe versucht, das zu verstehen, aber ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Woher kommt der Hass gegen Frauen? Und warum wird der Hass gegen ihr Geschlecht, im wahrsten Sinne des Wortes, gegen ihr Geschlechtsteil gerichtet? Männer werden erschossen, Frauen vergewaltigt. Die Vergewaltigungen von denen ich berichte, sind Folter, anders kann man das nicht nennen.
Rolf Pohl, ein Sozialpsychologe, den ich auch zitiere, hat ein Buch mit dem Titel "Feindbild Frau" geschrieben. Er schreibt "eines der wichtigsten Mittel zur Erzeugung soldatischer Kampfbereitschaft ist die Umwandlung von Angst, Wut und Hass in Destruktivität unter paranoiden Vorzeichen". Ich finde es interessant und aufschlussreich, was er schreibt. Und die Angst, die in Destruktivität verwandelt wurde, richtet sich schliesslich gegen Frauen, so habe ich das jedenfalls verstanden.
Sie haben auch ein Kapitel über Deutschland geschrieben. Warum?
Weil ich Deutsche bin und in Deutschland lebe. Man kann und darf sich nicht nur über die Anderen äussern, wir müssen auch immer wieder Bezüge herstellen. Es gibt hier Projekte, die sind grossartig. Beispielsweise ehrenamtliche Projekte von Geflüchteten für Deutsche, die Hilfsbedürftigen in Deutschland etwas zurückgeben wollen. Und da würde ich sagen: Mehr Integration geht nicht.
Ein Satz, der mir in diesem Zusammenhang in Erinnerung geblieben ist, lautet "Demokratie gibt es nur, wenn alle respektvoll mitmachen." Stellen Sie das momentan wieder verstärkt in Deutschland fest?
Ich frage mich, warum haben wir nie eine 95-prozentige Wahlbeteiligung. Wo sind die alle? Sind die alle krank? Was ist da los? Nichts zu machen, heisst ja, sich auf die anderen zu verlassen. Und das machen sich Rechtspopulisten zunutze.
Das Bedürfnis, die Verantwortung an jemand anderen abzugeben, ist ja durchaus im Menschen veranlagt. Der Grund für deine Misere sind aber nicht die anderen oder das Unbekannte. Denn nur du kannst Verantwortung für dein eigenes Leben übernehmen.
Ich möchte das Interview gerne mit einer positiven Frage beenden, denn Sie wollten ja auch ein positives Buch schreiben. Die vielen Menschenrechtler setzen sich trotz der schlimmen Dinge, die sie erleben, mit Freude und Energie für andere Menschen ein. Und die Menschen, gerade auch in Afrika, sind Ihnen mit Fröhlichkeit und Neugier begegnet. Gab es etwas Positives auf Ihren Reisen, das Sie immer wieder erfahren haben?
Zuneigung. Die Fähigkeit zu lieben, Menschen zu begegnen. Offenheit, Freundlichkeit. Zeit für andere Menschen zu haben. Essen als gemeinsames Ereignis. Das ist mir überall begegnet. Davon können wir lernen. Das glaube ich wirklich.
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