"Im Westen nichts Neues"-Regisseur Edward Berger spricht über den Zauber seiner Oscar-Nacht, seinen epochalen Antikriegsfilm und seine Zukunftspläne.
Edward Bergers epochaler Antikriegsfilm "Im Westen nichts Neues" ist mit insgesamt vier Siegen der erfolgreichste deutsche Oscar-Beitrag aller Zeiten. Bei der heutigen Verleihung des Deutschen Filmpreises ist die Netflix-Neuverfilmung von Erich Maria Remarques (1898-1970) weltbekanntem Roman ganze zwölf Mal nominiert.
Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news erklärt der Regisseur, warum er bei den Dreharbeiten lieber auf digitale Tricks verzichtete, wie er persönlich die triumphale Nacht der Oscarverleihung erlebte und wie es jetzt für ihn weitergeht.
"Im Westen nichts Neues" ist der erfolgreichste deutsche Oscar-Beitrag aller Zeiten. Inwiefern war die Produktion aber auch international geprägt, etwa durch die Beteiligten hinter der Kamera oder natürlich auch den Streamingdienst Netflix?
Das Thema hat auch viel mit unserer Ur-Katastrophe, unserem Ur-Trauma zu tun, diesem grossen Verbrechen des letzten Jahrhunderts. Und das ist nun mal ein sehr deutsches Thema. Insofern spielt es für mich keine Rolle, wo der Kameramann oder die Finanzierung herkommen. Es ist ein deutscher Film.
Für die Dreharbeiten wurde ein Schlachtfeld von 400.000 Quadratmeter Grösse mit über 1.500 Metern an Schützengräben errichtet. Warum haben Sie sich diesen Aufwand nicht erspart und mit digitalen Tricks gearbeitet?
Wir wollten viele Szenen in ungeschnittener Länge drehen, also mussten wir das Schlachtfeld auch in Wirklichkeit bauen. Es gibt zum Beispiel eine Einstellung zu Beginn des Films, in der die Kamera durch den Schützengraben schwebt, nach bestimmt 50 Metern auf dem Gesicht eines Schauspielers landet, der klettert dann eine Leiter hoch, die Kamera läuft nebenher, alles ungeschnitten noch bestimmt 100 weitere Meter übers Schlachtfeld hinweg.
Das allein waren schon etliche Quadratmeter, die man für diese Sequenz bauen musste, da wir wirklich mit unseren Figuren hindurchlaufen. So etwas kann man digital nicht auf diese physische Weise einfangen. Man braucht das richtige Werkzeug für die richtige Einstellung und das war in unserem Fall ein reales Set.
"Wir wollten ein physisches Erlebnis für den Zuschauer kreieren"
Wie sind Sie neben der Lektüre des Buchs in die Thematik Erster Weltkrieg eingestiegen? Was war Ihnen etwa besonders wichtig, am fürchterlichen Grauen des Grabenkriegs zu zeigen?
Zeigen wollte ich die Reise eines jungen Menschen, eines Kindes im Grunde, die im Zustand kompletter Unschuld beginnt. Und wie diese Reise durch den Einfluss des Kriegs zu kompletter Desillusion, einer zerstörten Seele und dem Tod jeglichen Gefühls führt.
Aus diesem Grund wollte ich ein möglichst physisches Erlebnis für den Zuschauer kreieren, ein nachfühlbares, subjektives Erlebnis von dem, was dieser Junge durchmacht, damit wir mit ihm auf diese Reise gehen. Wir haben versucht, die vermeintliche Realität so genau wie möglich darzustellen und die physisch erfahrbare Brutalität für den Zuschauer so weit wie möglich zu treiben.
Können Sie sich erklären, warum "Im Westen nichts Neues" speziell im Ausland so gefeiert und positiv aufgenommen worden ist?
Ich habe den Film gemacht, weil wir in Deutschland eine singuläre Perspektive auf das Thema Krieg haben - mit unserer Schuld und den Verbrechen, die das Land im letzten Jahrhundert begangen hat. Dieses Gefühl ist in jede Sekunde des Films geflossen, in jede Entscheidung, ins Casting, die Musik, den Schlamm, die drastische Darstellung der Brutalität, einfach in alles. Das können wir nur in Deutschland erzählen - nicht in England oder Amerika. In den Filmen dort wird dem Krieg auch immer etwas Positives abgewonnen. Da steht am Schluss der Sieg, ein Held, der den Feind überwunden hat. Wir können uns mit diesem Gefühl nicht identifizieren und deshalb auch nicht davon erzählen.
Unsere Perspektive öffnet Zuschauern im Ausland die Augen. Am Ende gibt es nur Verlierer, und das ist das eigentliche Wesen des Kriegs. In England, den USA und anderen Ländern wie Frankreich wurde das so nicht erwartet. Das hat das Publikum dann umarmt.
Was hat Sie bewogen, die zwei Handlungsstränge rund um den von Daniel Brühl gespielten Matthias Erzberger - eine historische Figur - sowie den fiktiven General Friedrich für Ihre Adaption zu erfinden?
Remarque hat sein Buch 1929 veröffentlicht, vor mittlerweile fast 100 Jahren. Bei ihm war der Zweite Weltkrieg also noch gar nicht passiert. Wir haben inzwischen eine Perspektive auf unsere Historie, dass der Erste Weltkrieg erst der Anfang war - der Anfang eines noch viel grösseren Terrors.
Ich bin 1970 geboren, lange nach dem Zweiten Weltkrieg, kann diesen also nicht mehr ignorieren.
Matthias Erzberger, der drei Jahre nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Nationalisten ermordet wurde, war der Kern des sogenannten Dolchstoss-Narrativs, das benutzt wurde, um letztendlich den Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Darauf wollte ich in meinem Film ein Schlaglicht werfen. Im Ersten Weltkrieg starben 17 Millionen Menschen. Man könnte meinen, dass wir daraus etwas gelernt hätten, dass das das Ende des Konflikts war. Tatsächlich war es jedoch erst der Anfang.
Die Figur des Generals Friedrich hat sich aus meinen Recherchen ergeben. Es gab etliche Offiziere, die ihre Truppen in der letzten Nacht tatsächlich noch in die Schlacht getrieben haben, obwohl sie wussten, dass dieses Abkommen unterschrieben war und der Frieden in wenigen Stunden kommen würde. Übrigens galt das für beide Seiten, sowohl für die Deutschen als auch die Amerikaner. Sie wollten aus der letzten Schlacht nicht als Verlierer heimkehren, sie wollten noch einen Orden. Das war das Denken der Offiziere.
Mit der Trophäe durch die Oscar-Nacht geschwebt
Wie haben Sie die Oscar-Preisverleihung und die anschliessende Nacht erlebt? Sind Sie viel mit Hollywood-Stars in Kontakt gekommen? Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Die Academy hat den Film sehr, sehr gemocht, sie hat ihn wirklich hochgeschätzt. Die Menschen haben mir immer wieder gratuliert. Das waren unheimlich herzliche Begegnungen.
Man schwebt mit dieser Trophäe in der Hand durch die Verleihung und die Feste, kann plötzlich mit jedem sprechen und jeden, wirklich jeden in den Arm schliessen. Alle erwidern die Umarmung und sprechen ihre Glückwünsche aus. Man wird sehr, sehr herzlich aufgenommen. Insofern war es eine wunderschöne Nacht, die ich immer in Erinnerung behalten werde.
Der schönste Augenblick kam allerdings am Morgen um halb sechs. Wir kehrten endlich wieder ins Hotel zurück, mein Körper war noch immer voller Adrenalin, ich setzte mich mit meinem Team in den Hof, und plötzlich fiel mein Blick auf den Oscar zwischen uns. In dem Moment habe ich erst wahrgenommen, dass wir ihn gewonnen hatten. Wir waren alle sehr glücklich.
Für Hauptdarsteller Felix Kammerer war "Im Westen nichts Neues" die erste Kino-Spielfilmarbeit. Wie lief die Zusammenarbeit am Set ab? Fiel ihm der Umstieg zur Filmarbeit als Theaterschauspieler leicht?
Unser erster Drehtag war wirklich Felix' erster Tag vor einer Kamera. Wir hatten ihn in Wien am Burgtheater gefunden, und wie vielen Schauspielern von der Bühne war ihm die Kamera erst einmal nicht bewusst. Er spielt halt nur mit seinem Partner, so wie es sich auch gehört.
Während der Proben, die ich mit meinem Smartphone aufnahm, hat er sich manchmal versehentlich vor meine Kamera gestellt, da er sich voll und ganz auf sein Gegenüber konzentrierte. Als ich ihn ganz vorsichtig darauf hinwies, hat er sich sofort bedankt. Ich musste es ihm nur einmal sagen, und ab da hat er mit der Kamera getanzt.
Felix ist ein einmaliges Talent. Er spürt einfach, mit wem und für wen er spielt. Er geht voll und ganz in seiner Figur auf und kennt sie bis ins letzte Detail.
Sehen wir Sie als Nächstes in Hollywood?
In Rom habe ich gerade einen Film mit Ralph Fiennes, Stanley Tucci und Isabella Rossellini gedreht. Er trägt den Titel "Conclave". Was danach kommt, wird sich ergeben. Es gibt auch den einen oder anderen amerikanischen Film, mich zieht es aber immer dahin, wo die beste Geschichte spielt. © 1&1 Mail & Media/spot on news
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.