Zu Beginn der Serie "Liebes Kind" gelingt Lena (Kim Riedle) die Flucht vor ihrem Entführer, der sie jahrelang gefangen gehalten hat. Doch für die Mutter und ihre beiden Kinder Jonathan (Sammy Schrein) und Hannah (Naila Schuberth) nimmt der Albtraum damit noch lange kein Ende.
Die Verfilmung des Romans von Romy Hausmann entwickelt sich zu einem Psychothriller mit vielen Wendungen, der mit einer starken Besetzung fesselt und sicherlich zu den bisher besten deutschen Netflix-Produktionen gehört. Vor allem Naila Schuberth und Sammy Schrein, die die beiden Kinder spielen, überzeugen in ihren Rollen. Die Serie startet am 7. September.
Die Regisseurin und Drehbuch-Autorin Isabel Kleefeld berichtet im Interview mit unserer Redaktion von der Herausforderung, einen Psychothriller mit Kindern zu drehen. Ausserdem spricht sie über die Zusammenarbeit mit einem zweimaligen Oscar-Gewinner für die Serie "Liebes Kind".
Frau Kleefeld, können Sie kurz zusammenfassen, worum es in der Serie "Liebes Kind" geht?
Isabel Kleefeld: Am Anfang steht die Flucht einer Frau und eines Mädchens aus anscheinend jahrelanger Gefangenschaft. Zusammenfassend geht es um Familie, um Sicherheit, Kontrolle, Ängste und Manipulation. Und um ein Urverbrechen, das über Jahrzehnte immer weitere Opfer gefordert hat.
"Liebes Kind" ist eine Verfilmung des Buches von Romy Hausmann. Wie war der Austausch mit der Autorin?
Der Roman wurde mir vor Veröffentlichung von der damaligen dtv-Verlegerin als Manuskript zugeschickt. Das habe ich in einer Nacht gelesen und daraufhin mit dem Produzenten Tom Spiess von Constantin Film über eine mögliche Verfilmung gesprochen. Er konnte bereits neun Monate vor Veröffentlichung des Buches über die Filmrechte verhandeln. Fünf Monate vor Veröffentlichung habe ich Romy dann das erste Mal getroffen. Und noch mal einen Monat bevor ich mit dem 50-seitigen Konzeptpapier fertig war, um alles, was es an Vorschlägen, Änderungen und Fragen gab, vorab mit ihr zu besprechen. Es war ein guter Austausch.
Dass bereits über eine Verfilmung verhandelt wird, bevor ein Buch veröffentlicht wurde, ist sehr ungewöhnlich…
Natürlich mussten noch Interessenten gefunden und eine Finanzierung aufgestellt werden. Aber unsere Begeisterung für den Thriller war von Anfang an da.
Sie haben bisher hauptsächlich für Fernsehfilme Regie geführt und Drehbücher geschrieben. Wie anders ist es, eine Serie für Netflix zu machen?
Es ist sehr schön. Weil man eine Geschichte und ihre Figuren in einem sehr viel grösseren Bogen über einen längeren Zeitraum mit mehr Tiefe erzählen kann.
In "Liebes Kind" spielen mit Naila Schuberth und Sammy Schrein zwei Kinder tragende Rollen. Müssen Sie als Regisseurin eine völlig andere Ansprache wählen, wenn Sie mit Kindern arbeiten?
Naila war zehn und Sammy acht Jahre alt, als wir vor einem Jahr gedreht haben. Wir haben uns in Abstimmung mit einer Kindercoachin, einer medienpädagogischen Fachkraft, dem Jugendamt und den Eltern ein spezielles Konzept überlegt, weil ein Psychothriller natürlich kein altersgemässes Sujet für Kinder ist. Um eine für die beiden nachvollziehbare Geschichte zu haben, haben wir ein zusätzliches Kinderdrehbuch geschrieben. Darin sind alle Szenen der Kinder in einen Kontext eingepflegt, der für die beiden eine kindgerechte, logische Geschichte ergibt. Ohne sie mit der Story zu konfrontieren, die wir Erwachsenen sehen werden.
Naila und Sammy werden die fertige Serie also nicht sehen dürfen?
Wenn zu Hause die Netflix-Kindersicherung aktiviert ist, werden sie die Serie nicht sehen. Die Serie ist erst ab 16 Jahren.
Naila und Sammy spielen sehr ernste Rollen, sie zitieren lange, komplexe Texte. Ist es schwer, Kinder für so anspruchsvolle Rollen zu finden?
Die Kindercasterin ist das Casting sehr vorbereitet und ausgesucht angegangen. Auch weil es einfach sehr hart ist, Hunderte Kinder ins Casting zu holen und ihnen danach wieder absagen zu müssen. Wir haben gemeinsam die Kinder genau ausgewählt und eingeladen. Sammy zum Beispiel kannte ich schon als Dreijährigen. Damals habe ich mit seinem älteren Bruder gedreht. Und Naila ist uns in einer anderen kleinen Rolle aufgefallen. Nachdem die beiden im Casting waren, haben wir nicht weitergesucht. Weil uns, den Produzenten und auch Netflix klar war, dass wir Hannah und Jonathan gefunden haben. Erst dann haben wir begonnen, die erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspieler zu casten.
Die erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspieler sollten den Kindern ähnlich sehen. Wie schwierig war es, diese Rollen zu besetzen?
Gar nicht. Für uns war es wichtig, dass sich die Kinder, speziell Hannah, auch in den Grosseltern wiederfinden. Innerhalb von ein, zwei Monaten hat sich die Besetzung herauskristallisiert. Wir, also mein Kollege Julian Pörksen (Regisseur und Drehbuchautor, Anm.d.Red.) und ich, haben uns mit Netflix und den Produzenten zu jeder Rolle abgesprochen. Damit wir alle zusammen die bestmöglichen Entscheidungen treffen.
Naila Schuberth und Sammy Schrein haben bereits in einigen anderen Produktionen mitgespielt, Naila unter anderem in dem Netflix-Film "Bird Box: Barcelona". Was zeichnet die beiden Schauspiel-Talente aus?
Bei beiden ist es die Spielfreude und die Natürlichkeit. Sie können sich mit Leichtigkeit spielerisch in eine Situation hineinbegeben. Wir haben mit den Kindern über den Kontext, über das, was gerade passiert, wie gesagt natürlich anders gesprochen als mit den Erwachsenen. Ansonsten war die Ansprache an sich gar nicht so unterschiedlich. Die beiden sind ganz schön schlau.
Es gibt eine Menge Vorschriften, wenn Kinder am Set zum Einsatz kommen. Was muss alles beachtet werden?
Zunächst einmal haben sich alle Erwachsenen sehr umsichtig und rücksichtsvoll den Kindern gegenüber verhalten. Und unser gesamtes Konzept, der Drehplan und bereits die Motivsuche haben sich an den Vorschriften orientiert, die es gibt, damit man mit Kindern überhaupt drehen darf. Kinder in dem Alter dürfen drei Stunden am Tag arbeiten, das beinhaltet auch Maske und Kostüm.
Es gibt festgelegte Pausenzeiten, die innerhalb der drei Stunden eingehalten werden müssen. Kinder dürfen insgesamt überhaupt nur fünf Stunden am Set anwesend sein. Dazu zählt auch Mittagessen, Quatschen und Spielen. Dementsprechend mussten die Motive und Kombinationen gefunden werden. Denn wenn wir einen halben Tag mit den Kindern gearbeitet haben, was dreht man dann an dem anderen halben Tag, ohne mit grossem Team und gesamtem Fuhrpark umziehen zu müssen?
Ist die Arbeitsatmosphäre eine andere, wenn Kinder zum Team gehören?
Ja. Und zwar absolut positiv. Wir hatten wie gesagt zudem eine Kindercoachin am Set, die die Zusammenarbeit auf dem Niveau überhaupt erst möglich gemacht hat. Sie hat bereits im Vorfeld mit den Kindern gearbeitet und wir haben vorab jede Szene mit den anderen Schauspielerinnnen und Schauspielern geprobt. Zusätzlich war eine sehr erfahrene medienpädagogische Fachkraft anwesend, die an das Jugendamt berichtet und uns beraten hat, damit alles möglichst kindgerecht ist. Die beiden waren eine wichtige Unterstützung. Ich bin bei diesem Projekt überhaupt sehr glücklich über die Zusammenarbeit von allen Departments.
Mit dem Argentinier Gustavo Santaolalla hat ein zweimaliger Oscar-Preisträger den Soundtrack für "Liebes Kind" komponiert. Wie kam diese internationale Zusammenarbeit zustande?
Wir sind Riesenfans der Musik von Gustavo Santaolalla. Der Music-Supervisor von Constantin Film hat uns gefragt, in welche Richtung wir denken, was die Musik für "Liebes Kind" angeht. Ich habe dann als Beispiel gesagt, dass ich die Musik von Santaolalla häufig als Layout nutze, wenn noch keine Musik vorliegt. Als der Music-Supervisor dann gesagt hat, dass er Santaolalla fragen könnte, haben wir zunächst gedacht, das ist ein Scherz. Aber er hat ihm einfach die übersetzten Drehbücher geschickt und Gustavo hat nach der Lektüre zugesagt. Auch weil er von der Figur Hannah so berührt war, von diesem merkwürdigen, geheimnisvollen, schrägen Mädchen.
Santaolalla hat die Musik also nur nach dem Drehbuch komponiert, ohne die Bilder zu sehen?
Wir haben bereits im Vorfeld Themen von ihm bekommen, mit denen wir direkt im Schnitt arbeiten konnten. Im Schnittprozess sind dann noch weitere Themen dazugekommen, Abwandlungen, Überarbeitungen, wir waren im ständigen Austausch. Aber bereits die ersten Themen, die er nur auf Basis seines emotionalen Zugangs zur Story komponiert hat, waren phänomenal. Gustavo hat für "Liebes Kind" erneut mit seinem Komponisten-Kollegen Juan Luqui zusammengearbeitet, die beiden haben gemeinsam auch den Soundtrack für die Serie "The Last of Us" komponiert. Die Musik der beiden gibt unserer Serie eine besondere Atmosphäre, über die ich sehr glücklich bin.
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Auf Netflix und auch auf anderen Streaming-Portalen erscheinen täglich neue Serien. Wie schwierig ist es, in einem solchen Überangebot die eigene Serie zu platzieren?
Das kann ich noch nicht sagen. Ich hoffe einfach, dass viele Zuschauer Interesse an der Serie haben werden. Und bin gespannt, was die Fans des Romans sagen werden. Es ist für mich Neuland, dass die Serie international zu sehen sein wird. Ich habe gerade grossen Spass daran, den Trailer in allen möglichen Synchronfassungen zu sehen, einfach irre.
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