Ein Jugendfreund Robert Karows wurde erschossen. Im "Tatort: Das Opfer" begibt sich der Kommissar auf eine Schnitzeljagd, die ihn körperlich und seelisch an seine Grenzen führt. Darsteller Mark Waschke brilliert.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

"Das Opfer" beginnt ganz langsam. Mit einem Kommissar, der sich wie betäubt durch den Tag schleppt. Robert Karow (Mark Waschke) muss allein ermitteln, weil Kollegin Nina Rubin (Meret Becker) während ihres letzten gemeinsamen Falles erschossen wurde. Und jetzt liegt Karows Jugendfreund Maik Balthasar (Andreas Pietschmann) erschossen im Wald. Maik war verdeckter Ermittler und hatte sich Zugang zur mafiösen Organisation von Nachtclubbetreiber Meşut Güneş (Şahin Eryilmaz) verschafft.

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Man sieht es in Karows Blick, man spürt es durch den Trauerschleier hindurch, der über diesem Berliner "Tatort" zu liegen scheint: Ein Gefühl von "Das darf doch nicht wahr sein" prägt "Das Opfer". Denn so wie Nina Rubin für Robert Karow mehr als eine Kollegin war, so ahnt man schnell, dass Maik Balthasar mehr als nur der Nachbarsjunge war.

"Das Opfer" ist ein grandioser Tatort

Wer aber nach den ersten Minuten befürchtet, jetzt 90 Minuten lang einem melancholischen Trauerkloss von einem Krimi dabei zusehen zu müssen, wie er sich schwermütig über eine geschundene Kommissarenseele wälzt, der wird schnell eines Besseren belehrt: "Das Opfer" ist ein grandioser Film mit einem starken Ensemble und einem herausragenden Mark Waschke. "Der Fall ist quasi auch Karow und Karow ist der Fall", hat es Regisseur Stefan Schaller im Interview ausgedrückt. Aber das raffinierte Drehbuch von Erol Yeşilkaya zeichnet das Psychogramm der Hauptfigur, ohne dabei den Krimi zu vergessen.

Alle Indizien im Wald deuten darauf hin, dass Maik Balthasar von Meşut Güneş persönlich als Verräter hingerichtet wurde. Staatsanwältin Sara Taghavi (Jasmin Tabata-bai) jubelt, weil sie den Verbrecher nach 15 Jahren Bemühen endlich hinter Gitter bringen kann.

Aber Karow kommt die Sache komisch vor. Weil er die Spuren lesen kann, die Maik Balthasar extra für ihn gelegt zu haben scheint. Sie führen unter anderem zu Camilla (Kim Riedle), einer Sexarbeiterin des Clubs, die bald als Karows Komplizin und Krankenschwester zugleich agieren muss.

Denn die Schnitzeljagd wird zu einer Tour de Force, die Robert Karow körperlich und seelisch an seine Grenzen bringt – und die Zuschauer und Zuschauerinnen erleben eine so spannende wie überraschende Spurensuche.

"Das Opfer" erzählt auf verschiedenen Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, aber die Inszenierung ist dabei so reduziert auf das Wesentliche, bei aller Emotionalität so unsentimental, dass keine Verwirrung aufkommt, nur präzise dosierte Erkenntnis.

Es geht um verdeckte Erinnerungen

Karow nimmt Urlaub, um ungestört arbeiten zu können. Zieht in Maiks Undercover-Wohnung ein, trägt Maiks Klamotten, liest Maiks Berichte. Ausgerechnet der sonst so coole, faktenorientierte Kommissar macht einen auf Einfühlung? Natürlich nicht. Jedenfalls nicht absichtlich. Robert Karow ist nur in einem derart fragilen Zustand, dass er auf seine Umgebung sensibler reagiert als sonst. Diese Seite an ihm zu sehen ist für das Publikum mindestens genauso spannend, wie ihn bei seinen Ermittlungen zu begleiten.

Wobei "Ermittlungen" nicht das richtige Wort ist, es geht ja nicht nur um Faktensuche, es geht nicht nur um einen verdeckten Ermittler – oder zwei, wenn man bedenkt, dass Robert Karow auch ohne falschen Namen nicht ganz er selbst ist. Sondern es geht auch um verdeckte Erinnerungen. Und als ob die nicht schon schmerzhaft genug sind, hat Karow bald auch noch Meşut Güneş' Männer auf den Fersen.

So ein intensiver Tatort funktioniert nur als Ausnahme

Der Fall ist Karow und Karow ist der Fall – aber der Fall ist ausserdem auch Mark Waschke, und Mark Waschke ist der Fall: Der Schauspieler liefert als vom Schmerz Betäubter eine Glanzleistung ab. Der unabhängige Analytiker Karow, der sich so fest im Griff hat und sich nur unverbindlichen Sex als gelegentliches Ventil erlaubt, muss erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man unfreiwillig auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Gefühle und Erinnerungen aus der Vergangenheit ergreifen von Karow Besitz wie Ungeheuer, die einen Riss in der Kellertür entdeckt haben und gierig ans Tageslicht klettern.

So hervorragend dieser Alleingang auch ist: Ein so intensiver "Tatort" wie "Das Opfer" funktioniert nur als Ausnahme. Gut, dass ab 2023 Corinna Harfouch als Kommissarin Susanne Bonard Robert Karow zur Seite stehen wird.

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