Eine Krankenschwester wird brutal erstochen. Die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk verdächtigen ihren Mann, einen vorbestraften Vergewaltiger. Die beiden haben sich über ein Brieffreundschaftsportal für Gefängnisinsassen kennengelernt. Aber dann treibt ausgerechnet der phlegmatische Assistent Jütte den Fall mit Hartnäckigkeit in eine gruselige Richtung – und das ist nicht die grösste Überraschung in diesem spannenden "Tatort"-Highlight.
Die andere grosse Überraschung - können wir hier nicht verraten, auch wenn das schwerfällt. Denn dieser Twist macht aus "Der Reiz des Bösen" jetzt schon ein Highlight der gerade gestarteten "Tatort"-Saison.
Neues Vokabular dank Kommissar Schenk
Der Gürtel wurde dem Mordopfer Susanne Elvan nach ihrem Tod um die Augen gebunden. Zwölf Mal hat die mordende Person auf einem Parkdeck auf die Krankenschwester eingestochen, in Bauch und Brust, mit grosser Wucht, obwohl Susanne Elvan schon nach den ersten Stichen tot war, wie der Mediziner den Kommissaren erklärt. "Übertötung", kommentiert daraufhin Kommissar Freddy Schenk, und wir haben ein neues Wort gelernt: Ein Mord, hinter dem grosse Gefühle stecken, Wut und Leidenschaft.
Aber es ist der Gürtel über den Augen, den Norbert Jütte auf den Fotos sieht, der den Mann völlig verstört auf das Dach des Kommissariats fliehen und für ein paar Stunden verschwinden lässt. Für die Arbeit der Kommissare macht das erst einmal keinen grossen Unterschied. Jüttes Arbeitseifer hält sich ja auch dann in Grenzen, wenn er beim Tee an seinem Schreibtisch sitzen darf.
"Turbo-Jütte" ist wieder da
Der von Roland Riebeling gespielte phlegmatische Assistent scheint sich langsam zu einem Liebling der "Tatort"-Drehbuchautoren zu entwickeln: Schon der Kölner Krimi "Der Tod der Anderen" im Januar spielte mit seinem kauzig-komischen Image und liess ihn von der Täterin als Geisel nehmen.
In "Der Reiz des Bösen" ist seine Rolle noch grösser. Denn als er vom Dach wieder heruntersteigt, lernen die Kommissare und Zuschauer einen ganz anderen Ermittler kennen. Einen, der einmal den Spitznamen "Turbo-Jütte" trug. Und das hat mit einem alten Fall zu tun, an den ihn die Gürtelbilder erinnern. Freddy Schenk kann es kaum glauben: "Unsere Schnecke war früher eine hyperaktive Springmaus." Was Jütte mit wieder gewonnener Energie herausfindet, ist allerdings gar nicht zum Lachen.
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Liebesbriefe an einen Inhaftierten
Doch erst einmal stellt sich heraus, dass Susanne Elvan mit einem ehemaligen Gefängnisinsassen verheiratet ist, den sie über ein Brieffreundschaftsportal für Inhaftierte kennengelernt hat. Da ist der erste Verdächtige natürlich schnell gefunden, zumal Tarek Elvan und seine Frau am Vorabend heftigen Streit hatten. Und dann erfahren die Ermittler, dass Susannes Ex-Mann ein jähzorniger Stalker ist. Und dann begleiten wir auch noch den zwielichtigen Häftling Basso (Torben Liebrecht) auf seinem Weg in die Freiheit und die Arme seiner Partnerin Ines (Picco von Groote), deren grosse Liebe ebenfalls als Brieffreundschaft begann und die alleinerziehende Mutter ist.
Langsam, aber stetig baut Regisseur Jan Martin Scharf mit seinen überzeugenden Darstellern ein Gefühl der Bedrohung auf, das durch die Nervosität aller Beteiligten effektvoll verstärkt wird. Schliesslich ist ihnen allen bewusst, dass ihre Beziehungen nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen. Sie stehen unter ständiger Beobachtung, als warte die Aussenwelt - Angehörige ebenso wie berufliche Ordnungshüter – nur darauf, dass ihre Befürchtungen sich bestätigen.
Warum erliegen wir dem "Reiz des Bösen"?
Es geht nicht nur um die Frauen, die dem "Reiz des Bösen" erliegen. Es geht um Vorverurteilung, Fairness, um Liebe und Beistand gegen alle Widrigkeiten. Tarek etwa hat schreckliche Verbrechen begangen, aber hart an sich gearbeitet. Sahin Eryilmaz spielt ihn als unsicheren grossen Teddybär, dem unsere Sympathien zufliegen – aber als er dem Druck, Hauptverdächtiger zu sein, nicht länger standhält, als sein Verhalten alle Vorurteile zu bestätigen scheint, landet er im Teufelskreis.
Es geht in "Der Reiz des Bösen" nicht nur darum, wem man glaubt, sondern auch, woran. Die Kommissare müssen "nur" den Schuldigen finden und alle Verdächtigen an ihren Taten messen. An die Zuschauer aber richtet das Drehbuch von Arne Nolting und Regisseur Jan Martin Scharf weitergehende Fragen: Die Frauen etwa – sind sie vorbildliche Mitglieder einer Gesellschaft, die vergibt und zweite Chancen bietet? Die vom rehabilitierenden Charakter einer Gefängnisstrafe überzeugt ist? Oder sind sie naive Einfaltspinsel mit Helfersyndrom, die sich und ihre Angehörigen in Gefahr bringen?
Und was ist mit uns? Eine so gewitzte wie unheimliche Verhörszene im Film erinnert nicht zufällig an den Psychothriller "Das Schweigen der Lämmer" mit dem faszinierenden Psychopathen Hannibal Lecter. Müssen Krimizuschauer sich den Vorwurf, dem Reiz des Bösen allzu willig zu unterliegen, nicht auch gefallen lassen? Vielleicht. Aber so lange es "Tatorte" wie diesen gibt, lässt man sich den Vorwurf gern gefallen.
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