Hans Pagel ist Patient und Pragmatiker: "Dein Problem ist nicht, dass du deine Mutter erschlagen hast", erklärt er seinem Zimmergenossen Milan, "sondern dass du einen Anwalt hast, der dich nur einmal im Jahr sieht."
Hans hat es besser. Seit drei Jahren sitzt der Choleriker wegen Gewalttätigkeit gegenüber seiner Familie im Massregelvollzug. Aber er hat endlich eine Gutachterin, die auf seiner Seite ist: Die Psychotherapeutin Lisa Schiblon glaubt nicht, dass er eine Gefahr für die Öffentlichkeit sei, und will für seine Freilassung plädieren. Und dann, so Hans, werde er seinem Freund Milan (Bekim Latif) einen guten Anwalt besorgen. Ob Milan wie besprochen seine Tabletten sammle, statt sie zu schlucken? Die würden nur dafür sorgen, dass einem alles egal sei.
Eine Tote und viele Verdächtige
Hans Pagel (Rüdiger Klink) ist nichts egal. Er kämpft gegen das System. Gutachterin Lisa Schiblon allerdings liegt tot im Kofferraum ihres Wagens auf dem Parkplatz des beliebten Schwarzwälder Ausflugsziels Schauinsland. Und im Auto finden sich Spuren von Hans Pagel. Der flippt aus und ist sofort der Hauptverdächtige. Obwohl das keinen Sinn ergibt: Lisa Schiblon war seine letzte Hoffnung, sonst nämlich glaubt niemand an seine Besserung.
Höchstens vielleicht Pfleger Matthias (Christoph Glaubacker), aber der hat nichts zu sagen und ausserdem etwas zu verstecken. Etwas zu sagen haben der leitende Arzt Thorsten Günnewig (Falilou Seck) und seine Stellvertreterin Gisela Tausendleben (Ulrike Arnold). Günnewig allerdings ist voll mit seiner Drogensucht beschäftigt; und Gisela damit, Thorstens Sucht zu decken. Die Ärztin scheint nicht viel von Lisa Schiblons Expertise gehalten zu haben. Günnewig dagegen hat sich kurz vor Schiblons Tod noch mit ihr getroffen.
Leider wissen der Freiburger "Tatort"-Kommissar Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) und Kollegin Franziska Tobler (Eva Löbau) von den Verhältnissen in der Klinik nichts. Sie konzentrieren sich erst einmal auf Pagel und seine Familie. Und deren Mitglieder könnten alle selbst eine Therapie gebrauchen. Ungeordnet wirkt nicht nur das heruntergekommene Haus am Wald, in dem die alkoholkranke Ehefrau Andrea (Angelika Richter), die verschüchterte Tochter Isabelle (Lara Koller) und Sohn Leo (Anton Dreger) hausen. Letzterer spielt mit einer dermassen verbissenen Feindseligkeit den Mann im Haus, dass man sich sofort fragt, wie weit er gehen würde, um den verhassten Vater in der Klinik zu halten.
Und was ist mit Milan? Ein halluzinierender Patient, der seine Mutter erschlagen hat – würde der nicht auch eine Therapeutin töten, die ihm den besten Freund wegnehmen will? Über Lisa Schiblons Ehemann schliesslich gäbe es auch so einiges zu erzählen.
So ziemlich jeder und jede in "Letzter Ausflug Schauinsland" scheint ein besseres Mordmotiv zu haben als Hans Pagel. Der wehrt sich gegen die Verdächtigungen – und liegt plötzlich "beruhigt" auf der Krankenstation.
Hommage an "Einer flog über das Kuckucksnest"?
Spätestens da werden Filmfans an "Einer flog über das Kuckucksnest" denken. In der Tragikomödie von Miloš Forman spielt Oscar-Preisträger Jack Nicholson den charismatischen Gewalttäter Randle McMurphy, der eine Geisteskrankheit vortäuscht, um nicht ins Gefängnis zu müssen, und dann die Nervenheilanstalt aufmischt, die von einer despotischen Krankenschwester regiert wird.
Ob der Vergleich auf falsche Fährten oder richtige Spuren lockt, soll hier natürlich nicht verraten werden. Nur so viel: "Letzter Ausflug Schauinsland" ist eine eher zurückhaltende Hommage, und das nicht nur, weil die freundliche Atmosphäre und die warmen bunten Farben des Schwarzwälder Therapiezentrums nichts gemein haben mit der düsteren Anstalt in dem US-Film von 1975.
Wir befinden uns hier schliesslich in einem gediegenen baden-württembergischen "Tatort" des Jahres 2024. Hier wird solide ermittelt, nicht verschmitzt untergraben. Und das ist nicht unbedingt schlecht: Regisseur Stefan Krohmer und Drehbuchautorin Stefanie Veith gehen respektvoll mit psychischen Erkrankungen um und nutzen sie nicht für Schock- oder Lacheffekte.
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Mehr Irrsinn und weniger von den Ermittlern
Etwas mehr kreativer Irrsinn hätte dem Krimi allerdings gutgetan. "Letzter Ausflug Schauinsland" ist voll von Individualisten, deren Geschichten so unterhaltsam angerissen werden, dass man zu gern mehr über sie erfahren würde.
Stattdessen geht wertvolle Erzählzeit an die Ermittler verloren: Friedemann Berg hat nicht nur Probleme mit einem Leck im Dach seines alten Bauernhauses. Die Konfrontation mit einem gewalttätigen Familienvater reisst noch andere Wunden auf, die er lieber in seinen Bart grummelt. Der Mann will sich nicht helfen lassen. Die Kollegin ist beleidigt.
Franziska Tobler und Friedemann Berg drosseln mit ihrer Behäbigkeit (und den Dachdeckerproblemen) das Tempo dermassen, dass man ihnen die Schuld daran geben möchte, wenn viele Fragen unbeantwortet bleiben. Auch wenn das eher offene Ende gut zu diesem einfallsreichen Film passt, in dem unterschiedliche Realitäten mal mehr, mal weniger friedlich koexistieren dürfen. Aber es ist einer dieser Fälle, bei denen man sich ärgert, dass der "Tatort" unbedingt seine Ermittler mit Problemen ausstaffieren will, anstatt sich ganz auf den Fall zu konzentrieren.
Zeit, den ungewöhnlichen Gestalten in "Letzter Ausflug Schauinsland" nachzusinnen, gibt es jedenfalls genug: Es ist der letzte "Tatort" vor der Sommerpause, die dank diverser Sportereignisse (Leichtathletik-EM, Fussball-EM und Olympische Sommerspiele) in diesem Jahr besonders früh beginnt und länger dauert.
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