"Dieser 'Tatort' ist angelehnt an wahre Begebenheiten", heisst es zu Beginn. Nur die "Personen und Handlungen sind frei erfunden". Der Anspruch dieses Films ist somit klar: Der Hauptstadt-"Tatort" setzt auf aktuelle politische Themen.
Ein ehemaliger Abgeordneter könnte frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit mitten auf der Strasse erschossen werden, nur wenige Meter vom belebten Berliner S-Bahnhof Friedrichstrasse entfernt. Weil jemand findet, die Taten dieses Mannes haben den Tod verdient. Und nicht nur seine: Im neuen "Tatort" aus Berlin hat jemand gleich mehrere politisch aktive Menschen im Visier.
"Vier Leben" spielt an einem Tag – nur so viel Zeit bleibt Kommissarin Susanne Bonard (
Denn wenige Stunden später trifft es eine Lobbyistin auf einem Empfang im Berliner Stadtschloss. Am helllichten Mittag fällt ein Schuss durch das verglaste Fenster. Kommissar Robert Karow stand nur wenige Schritte von ihr entfernt mit seinem Weinglas in der Hand. Jetzt verblutet Elizabeta Alvarez (Clelia Sarto) unter seinen Händen.
Chaotischer Abzug der Nato-Truppen als Hintergrund
Das erste Opfer, Jürgen Weghorst (Philipp Lind), war ein ehrgeiziger Jungpolitiker, der wegen eines Bestechungsskandals zurücktreten musste. Danach arbeitete er als Berater für einen Interessenverband der Lebensmittelwirtschaft – für den Elizabeta Alvarez gerade Lobbyarbeit betrieb. Vor allem aber waren beide im August 2021 in Afghanistan.
Mitten im chaotischen Abzug der Nato-Truppen gehörten sie zu einer kleinen Reisegruppe, der es dank Weghorst gelang, kurzfristig aus der Hauptstadt Kabul ausgeflogen zu werden. In einem Bundeswehrflugzeug, das eigentlich für die Evakuierung von 80 gefährdeten Ortskräften sorgen sollte.
Ortskräfte sind afghanische Einheimische, die für die Deutschen gearbeitet haben – also genau jene Menschen, die an die Werte des Westens glaubten, dafür viel riskierten und nach der Machtübernahme der Taliban mit besonders schweren Vergeltungsmassnahmen rechnen müssen.
Das Timing für diesen "Tatort" könnte kaum besser sein
Hier kommen die wahren Begebenheiten ins Spiel, von denen am Anfang die Rede war. Denn der Rückzug verlief bekanntlich genauso katastrophal, wie es im Film unter anderem von der Menschenrechtsaktivistin Soraya Barakzay (Pegah Ferydoni) beschrieben wird.
Sie wirft der Bundesregierung Versagen vor. Und weil sie Weghorst zuvor öffentlich bedroht und ihn beschuldigt hatte, für den Tod Dutzender Einheimischer verantwortlich zu sein, gerät sie schnell ins Zentrum der Ermittlungen.
Das Timing für diesen "Tatort" könnte kaum besser sein: Ende Februar will der Untersuchungsausschuss zum Abzug der Bundeswehrtruppen aus Afghanistan seine Ergebnisse vorlegen.
Aber man muss nicht auf den Abschlussbericht warten, um zu wissen, dass der Abzug der Nato-Truppen unter dramatischen Umständen ablief und gravierende Folgen hatte: Die Bilder von Menschen, die sich verzweifelt an Flugzeugrampen klammern, haben sich dauerhaft ins öffentliche Bewusstsein gebrannt.
Der Hauptstadt-"Tatort" setzt auf politische Themen
Eine ebenfalls eingesetzte Enquete-Kommission (in der, anders als in einem Ausschuss, ausser Abgeordneten auch Experten sitzen) hat ihr Ergebnis Ende Januar vorgelegt. Man sei bei seinem Engagement im Ausland von der Unterstützung durch Ortskräfte abhängig, heisst es darin: "Daher ist der Umgang insbesondere mit (gefährdeten) Personen und ihren Familien beim Abzug in Afghanistan eine Lehre für künftige Einsätze, denn Deutschland erwies sich als nicht ausreichend vorbereitet auf den Schutz der im Land zurückgebliebenen Ortskräfte und ihren Angehörigen."
Im "Tatort" drückt es Soraya Barakzay weniger diplomatisch aus: Die deutsche Regierung, so die ehemalige Richterin, habe die Ortskräfte im Stich gelassen und dem Tod überlassen.
Zwei Fälle erst hat das neue Team Susanne Bonard und Robert Karow gelöst, aber die Richtung zeichnet sich bereits ab: Der Hauptstadt-"Tatort" setzt auf politische Themen. Bis jetzt hat dieser Schwerpunkt für starke Stoffe gesorgt, und auch dieser Fall bildet keine Ausnahme.
"Vier Leben" ist ein spannender Politkrimi
Das Drehbuch (von Thomas André Szabó) versorgt das Publikum mit den politischen Hintergründen, ohne es für dumm zu verkaufen oder in einen langweilenden Erklärmodus zu fallen – immer geht es um Menschen und Einzelschicksale.
Und unter Mark Monheims Regie wird aus Bonnards und Karows zähen, von Amtsträgern argwöhnisch beobachteten Ermittlungen bald ein Wettlauf gegen die Zeit – die regelmässig eingeblendeten Orts- und Zeitangaben wirken wie eine tickende Zeitbombe, mit einem Kommissar und einer Kommissarin, die immer einen Tick zu spät zu sein drohen.
Besonders Karow hat deshalb immer weniger Geduld für mühselige Amtswege: Als Elizabeta Alvarez vor seinen Augen verblutet, ist ihm pure Verzweiflung anzusehen – ein dramaturgisch kluger Kniff, um Karows ungezügelte Einsatzbereitschaft zu erklären. Denn obwohl ihm die Lobbyistin nichts bedeutete, erinnert die Szene an den Tod seiner früheren Kollegin Nina Rubin (Meret Becker).
Der Kommissar wirft sich regelrecht in die Ermittlungen, während Susanne Bonnard mit ausgesuchter Höflichkeit weiterzukommen versucht. Die riskanten Aktionen des einen, die einfühlsame Diplomatie der anderen, auf der Gegenseite ein Profi, der scheinbar nichts mehr zu verlieren hat – "Vier Leben" ist bis zu seinem dramatischen Showdown ein spannender Politkrimi, der aus den Tiefen des Berliner Regierungsviertels bis nach Afghanistan reicht und eine politische Katastrophe gekonnt mit persönlichen Tragödien verbindet.
Verwendete Quellen
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