Szenen einer Ehe am Abgrund: "Die Blicke der Anderen" ist ein starker "Tatort" über die Einsamkeit einer Aussenseiterin im ordentlichen Schwarzwald.
"Die Sandra ist halt die Sandra." So beschreibt die Schwiegermutter ihre Schwiegertochter, und in dem Satz steckt schon viel von dem, was man über diesen herausragenden Schwarzwälder "Tatort" wissen muss. Zumal sie genau genommen nicht "ist" sagt, sondern: "Die Sandra isch' hat die Sandra." Übersetzt heisst das: Sandra Vogt (Lisa Hagmeister) kommt nicht von hier, die gehört nicht in unser ordentliches, gutsituiertes süddeutsches Städtle. Sie ist eine Zugezogene, eine "Reig'schmeckte". Die mag man hier nicht.
Vieles ist "anders"
Warum, kann die Schwiegermutter, eine wohlhabende Landwirtin, nicht so genau sagen. Auch die Nachbarin, eine pensionierte Grundschullehrerin, die "hier jeden kennt", ist auf Sandra nicht gut zu sprechen. Einfach, weil sie Sandra eben nicht seit der Grundschule kennt. Da behält sie sie lieber mal mit dem Fernglas im Auge. Sandra Vogt ist anders. Wie genau, ist egal. "Anders" ist schlecht, "anders" ist verdächtig.
Besonders jetzt, da Sandras erfolgreicher Ehemann Gerd (Daniel Lommatzsch) und ihr jüngerer Sohn eines Morgens verschwunden sind und nichts hinterlassen haben als eine riesige Blutlache in der Matratze des Ehebettes. Während Sandra auf einem Betriebsfest im Rathaus war. Und danach noch woanders. Wo und mit wem, will sie Kommissarin Franziska Tobler (
Sandra benimmt sich wirklich ungewöhnlich für eine Frau, die annehmen muss, dass dem eigenen Sohn und Mann Furchtbares passiert ist. Aber wie genau hat man sich angesichts einer Katastrophe denn zu benehmen? Liegen im Rathaus vielleicht badische Benimmregeln? Gibt es ein Handbuch für die erfolgreiche Anbiederung Zugezogener an die Einheimischen?
Ein sensibles Drama einer Aussenseiterin
Es geht in diesem "Tatort" um die "Blicke der Anderen", aber es geht auch um den Blick Sandras. Ein Blick, mit dem sie sich abschottet. Vielleicht ist Sandras Apathie purer Selbstschutz, der ihr als Gleichgültigkeit ausgelegt wird, oder Härte. Vielleicht kann sie sich nur so vor dem Zusammenbruch retten.
Denn was sich im Folgenden vor den Augen des Publikums entfaltet, ist das sensible Drama einer Aussenseiterin, die die Einsamkeit zu einer Gefangenen gemacht hat: gefangen in einem unglücklichen Leben, festgehalten von den Erwartungen ihrer Umgebung. Mithilfe von Rückblicken zeichnet Regisseurin Franziska Schlotterer (von der auch der Schwarzwälder "Tatort: Was wir erben" stammte) präzise und zugleich stimmungsstarke Szenen, die sich zum Porträt einer Ehe am Rande des Abgrunds fügen.
Was wie ein Ende mit Schrecken aussieht, war, wie bald deutlich wird, für Sandra ein Schrecken ohne Ende – und zwar nicht wegen Handgreiflichkeiten, soviel kann man schon verraten. Der Schmerz ist in Bernd Langes Drehbuch subtiler angelegt. Und auch wenn sich am Krimiplot trotz der überraschenden Auflösung einiges aussetzen lässt – dieser Geschichte, die vor allem Sandras Geschichte ist, folgt man so gespannt wie der Tätersuche von Tobler und Berg, die geradezu verwirrt einen Eindruck von den Lebensumständen aller Beteiligten zu bekommen versuchen.
Plädoyer für mehr Toleranz und Gemeinsinn
Die Stärke von "Die Blicke der Anderen" liegt auch an den hervorragenden Darstellerinnen und Darstellern, die es schaffen, in prägnanten Szenen und kurzen Momenten den ganzen Charakter ihrer Figuren zu entfalten. Lisa Hagmeister als Sandra schert sich einen beeindruckenden Dreck darum, sympathisch rüberzukommen. Alles, was sie tut, um sich ein Stück Unabhängigkeit zu erobern, wird gegen sie verwendet. Denn über allem, was sie tut, schwebt der Vorwurf der Selbstgerechten: Sowas macht man nicht. Nicht als Mutter, als Ehefrau, als Rathaus-Mitarbeiterin, als Bewohnerin einer anständigen Gegend.
Der "Tatort" gehört zur ARD-Themenwoche "Wir gesucht! – Was hält uns zusammen?". Unter diesem hölzernen Titel zum Thema gesellschaftlichen Zusammenhalts lässt sich viel versammeln. Aber dem Krimi gelingt es, die Einsamkeit derer nachempfinden zu lassen, die sich als Aussenseiter fühlen. Was in einer Ehe ebenso vorkommen kann wie in einer Familie, Schule, Nachbarschaft, oder in dem Land, in dem man lebt. Das macht "Die Blicke der Anderen" tatsächlich zu einem starken Plädoyer für mehr Toleranz und Gemeinsinn.
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