Zwei Passanten wurden brutal erstochen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz gibt es schnell einen Verdächtigen. Aber die geballte "Tatort"-Intelligenz weiss sofort: Es kommt alles ganz anders.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

An einem helllichten, wenn auch ungemütlichen Winternachmittag werden am Hannoveraner Bahnhof zwei Menschen erstochen. 200 Passanten sind potenzielle Zeugen, haben aber ebenso wenig Brauchbares gesehen wie die Bahnhofskameras, die natürlich gerade kaputt waren.

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Der Mensch ist in diesem Fall genauso nutzlos wie die Maschine – es muss also dringend ein Upgrade her: Bundespolizist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) wird von Polizeidirektorin Gabriele Seil (Anna Stieblich) nach Hannover gerufen. Ausserdem hat sie die Erlaubnis eingeholt, "Kroisos" einzusetzen – ein KI-basiertes Computerprogramm, das per Datenanalyse in Windeseile Verdächtige ausspuckt.

"Tatort: Im Wahn": Strassenbulle gegen Supercomputer

Der Kampf Mensch gegen Maschine, von dem der "Tatort: Im Wahn" erzählt, kann beginnen: Auf der einen Seite ein Strassenbulle alter Schule, auf der anderen eine hypermoderne Investigationssoftware. Aber Falke ist ja nicht dumm. Er steht Kroisos zwar skeptisch, aber offen gegenüber. Und es ist schon erstaunlich, was die Software kann: Es werden eben mal kurz die Bewegungsprofile aller Handybenutzer im betroffenen Mobilfunkgebiet erstellt – und zwar gleich der letzten drei Wochen. Ausserdem durchkämmt Kroisos ihre Social-Media-Profile und überprüft Behördenkontakte der letzten zehn Jahre.

Kommissar Falke wird skeptisch

Einer der Verdächtigen, die sich daraufhin herauskristallisieren, ist René Kowalski (Mirco Kreibich). Unter anderem hat er sich in den vergangenen zwei Wochen mehrmals in einer sozialpsychiatrischen Klinik aufgehalten. Für Kroisos ist die Sache klar: Der ist der Täter. Jetzt murrt Falke doch auf. Das geht ihm ein bisschen zu schnell, riecht ihm ein bisschen zu sehr nach Vorverurteilung. Medizinisches Profiling sozusagen.

Noch ein Bösewicht

Und auch das Fernsehpublikum ist ja nicht blöd: Ein Täter, der nach zwölf Sendeminuten feststeht, kann ja wohl nicht der Täter sein. Zudem ist da noch Finn Jennewein (Thomas Niehaus). Der Kroisos-Experte hat sich ein bisschen zu manisch die Hände desinfiziert, bevor er im Hannoveraner Kommissariat seinen Wundercomputer installierte. Und er ist ganz in Designerschwarz gekleidet und trägt nur aus Eitelkeit eine Brille. Wie er so betont freundlich-nüchtern die Ergebnisse seiner Software präsentiert und bei der Pressekonferenz zur Täterfindung so überlegen lächelnd im Hintergrund steht, da kommt man mit geballter "Tatort"-Intelligenz sofort zu dem Schluss, dass Finn Jennewein ein Bösewicht sein muss. Falke mag ihn auch nicht.

Inspiriert von einem echten Softwareprogramm

Aber so einfach ist es dann auch wieder nicht. Drehbuchautor Georg Lippert hat sich für seinen "Tatort" von einer Software des amerikanischen Unternehmens Palantir anregen lassen, die in Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen und von Europol tatsächlich für die Polizeiarbeit genutzt wird. Er erzählt einen raffinierten, nie plakativen KI-Krimi, den Regisseurin Viviane Andereggen auch visuell nuanciert umgesetzt hat. "Im Wahn" lotet den Gegensatz zwischen KI und den menschlichen Ermittlern und die jeweiligen Grenzen aus, ohne eine Seite zu verteufeln. Die Vor- und Nachteile werden über die Geschichte nachvollziehbar, ohne dass sie trocken erklärt werden müssen.

Überflüssiger Besuch aus Göttingen

Ein kluger Twist im Plot verstärkt Falkes emotionale Involviertheit und verleiht dem Fall zusätzliche Dramatik. Aber wie kommt man mit Bauchgefühl gegen präzise Datenanalyse an, mit Empathie gegen überwältigende Statistiken? Gut, dass dem Superhirn Kroisos neben Falke gleich zwei Ermittlerinnen gegenübergestellt werden: Mit Yael Feldman (Peri Baumeister) von der Kripo Hannover hat Falke eine Kollegin an der Seite, die eine ebenso leidenschaftliche Ermittlerin ist wie er, mit den Wünschen ihrer Vorgesetzten aber diplomatischer umzugehen weiss.

Ausserdem ist Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) aus Maria Furtwänglers Lindholm-"Tatorten" angereist. Während aber Kommissarin Yael Feldman mit ihren Karriereambitionen zusätzliche Dynamik in die Ermittlungen bringt, wirkt der Besuch der Göttinger Hauptkommissarin völlig überflüssig. "Ich bin hier nur als Touristin", stellt Anaïs Schmitz sich vor – und das beschreibt ihre Rolle ganz gut. Aber geschenkt: Sie stört noch weniger als ein paar Ungereimtheiten im Plot.

"Im Wahn" ist eine unterhaltende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und den Gefahren von KI bei der Verbrechensbekämpfung. "Besser gläsern als tot", kommentiert eine Radiomoderatorin die Anwendung von Kroisos. Allerdings ist der "Tatort" bei aller Ausgewogenheit nicht unbedingt ein Plädoyer dafür, dass der Nutzen das Risiko überwiegt. Ausser, man liesse nur integre Strassenbullen wie Thorsten Falke an die KI-Tastatur. Scheint nicht sehr realistisch.