Zwei schwule Bohemiens "adoptieren" einen Problembengel aus dem Kiez - am Ende steht ein vertrackter Mordfall. Einer, mit dem der Hauptstadt-"Tatort" um das zerstrittene Ermittlerduo Karow/Rubin seine Möglichkeiten voll ausschöpft. Endlich mal!

Eine Kritik
von Johann Ritter
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Wie blutig ging es zu?

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Gruselfunde sind beim Berliner "Tatort" offenbar eine Art Erkennungszeichen. Nach zerstückelten und in Säure aufgelösten Leichen sowie zuletzt recht expliziten Folterszenen wurde diesmal ein Mann gefunden, der angezündet wurde und bis zur Unkenntlichkeit mit einer Gartenliege verschmolzen war.

O-Ton des Kriminaltechnikers: "Machst'n Schild dran, schickst es zur Documenta: 'Der Mann im Plastikliegestuhl'."

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Was war geschehen?

Zunächst mussten die Kommissare Robert Karow (Mark Waschke) und Nina Rubin (Meret Becker) davon ausgehen, den Besitzer der Gartenlaube auf dem Seziertisch zu haben, den trotz Anfeindungen offen schwul lebenden Lehrer Enno Schopper.

"Fragen Sie mal die Kids im Kiez, was man am besten mit Schwulen macht", raunte sein hinterbliebener Lebenspartner Armin Berlow (Jens Harzer). Wie sich spät herausstellte, war das aber eine ganz falsche Fährte ...

Worum ging es wirklich?

Was passiert, wenn extrem unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinanderprallen? Wohl nirgendwo sonst könnte man davon besser erzählen als in Berlin.

Wo sonst käme es vor, dass zwei schwule Bohemiens den pubertierenden Sohn eines aus Kroatien stammenden Intensivstraftäters unter ihre Fittiche nehmen und ihm zwischen Schallplattensammlung und Bücherwand ein mit Parkett ausgelegtes Bildungsparadies bauen.

Duran Bolic (Justus Johanssen) packte die Chance beim Schopf und träumte sogar von einem Auslandsstudium. Mit fatalen Folgen für alle Beteiligten. Dass sich ausgerechnet Durans grobschlächtiger Vater als Mordopfer herausstellen sollte, war eine treffliche Pointe.

Ergab die Story Sinn?

Sehr sogar. Dass eine so unorthodoxe Familienaufstellung für böses Blut sorgen kann, glaubte man sofort. Drehbuchautor Christoph Darnstädt (er schrieb mit zweifelhafterem Fortune sämtliche Til-Schweiger-"Tatorte") versichert: "Das Thema von 'Amour fou' ist tatsächlich angelehnt an eine wahre 'Adoptions'-Geschichte aus dem Bekanntenkreis, die allerdings im Gegensatz zur Story unseres Krimis gut und glücklich verlief."

Wie realistisch war der "Tatort"?

"80 Prozent unserer Schüler haben Migrationshintergrund." Was der Rektor der Neuköllner Gesamtschule den Berliner Kommissaren da vorrechnete, passt ins Bild, das sich in der Hauptstadt vielerorts bietet.

Sekundarschulen mit teils weit über 80 Prozent Schülern "nichtdeutscher Herkunftssprache" sind den Statistiken zufolge keine Seltenheit - gerade in Neukölln.

Ob dann auch immer gleich "79 Prozent" der Schüler "homophob" sind, wie der Rektor sarkastisch hinterherschob, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt.

Wie waren die Kommissare in Form?

Stark verbessert! Robert Karow hat endlich seine dunkle Vergangenheit als Drogenermittler abgearbeitet, bei Kollegin Nina Rubin ist sogar der abtrünnige Mann wieder zu Hause eingezogen. Zumindest vorübergehend.

Mehr über Mark Waschke

So gaben die beiden ein höchst funktionales und konzentriertes Gespann ab. Von Harmonie ist zwischen der Arroganzbestie Karow und dem Feierbiest a.D. Rubin aber weiterhin keine Spur.

Wer hatte den besten Auftritt?

Eindeutig Jens Harzer als Armin Berlow. Harzer war als schwuler Westentaschenbaudelaire mit blasiert gelupfter Oberlippe eine ziemliche Sensation, man kann es schwer anders sagen.

Erst unlängst geisterte dieser Ausnahmeschauspieler als sanfter Todesengel durch einen Tukur-"Tatort". Wenn sich der eher film- und fernsehscheue Theatergigant im Sonntagskrimi jetzt regelmässiger die Ehre gibt, wäre das gewiss nicht zum Nachteil der ARD-Reihe.

Das Zitat, das man sich merken muss ...

... kam dann natürlich auch vom ironischen Kiezdandy Berlow. Dem Schutzanzug tragenden Robert Karow, der dem männlichen Geschlecht bekanntlich in Liebesdingen nicht abgeneigt ist, säuselte er zweideutig zu: "Wenn Sie die Kapuze aufsetzen, sehen Sie aus wie so'n Woody-Allen-Spermium."

Wie gut war der "Tatort"?

Horizontale Erzählstränge in allen Ehren. Aber mit ihrem Faible für moderne Serien hatten es die Berliner "Tatort"-Macher zuletzt übertrieben. Kaum möglich, nach jeweils Monaten der Pause immer wieder den Anschluss an den letzten Cliffhanger zu finden.

Autor Darnstädt und Regisseurin Vanessa Jopp haben nun mit "Amour fou" einen Krimi hingestellt, der aus sich selbst heraus begeistert, weil an alles gedacht wurde: eine überragende Besetzung, rasiermesserscharfe Dialoge, stimmige Milieus und einen kunstvoll verzwickten Fall, der einen bis zur letzten Sekunde in Atem hielt.

So einfach ist das nämlich. Und doch so schwer.

Wir sind schwer begeistert und vergeben eine glatte Eins!

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