In "Avatar" kämpft eine Mutter mit den Mitteln der Verbrecher. Der "Tatort" aus Ludwigshafen erzählt von KI und Cyber-Grooming.
Sina spricht mit ihrer Mutter per Videochat. Die 14-Jährige ist traurig und verzweifelt, aber sie will nicht sagen, warum. Klar ist nur, etwas stimmt hier nicht, und Sina ist wütend, weil ihre Mutter Julia nicht für sie da war, als sie sie gebraucht hat. Dann wechselt Sina das Thema: "Ich hab ein Lied gehört, das ist schön. Das hab ich mal von Tom gekriegt, als wir noch zusammen waren. Ich hab's dir geschickt." Julia klickt darauf, und erste Akkorde setzen ein.
Eine Mutter wird zur Mörderin
"Leave This World Behind" (auf Deutsch: Lass dieses Leben hinter dir) ist wirklich ein toller Song, kraftvoll und traurig zugleich. Wie dieser "Tatort". Wie Julia da Borg (Bernadette Heerwagen). Das Lied (von der Band Bright Fuzz) handelt davon, einen Schlussstrich zu ziehen. Der perfekte Soundtrack für den intensiven "Tatort: Avatar" aus einem winterlich kargen Ludwigshafen. Das perfekte Leitmotiv für eine Mutter, die zur Mörderin wird.
Denn am Fluss liegt eine Leiche. Ein Mann aus einer anderen Stadt, der im Mietwagen zum Ufer gekommen ist. Wohl ein Herzinfarkt, aber er hatte auch Spuren von Pfefferspray im Gesicht. Als Lena Odenthal (
Es geht in "Avatar" weniger um die Suche nach einer Täterin, sondern darum, Julias Beweggründe zu verstehen. Denn Sinas Leben ist vorbei, aber den Schlussstrich, den kriegt Julia nicht hin. Nicht, bevor sie nicht weiss, wer oder was für Sinas Ende verantwortlich war. Bis dahin ist Julia nicht sie selbst. Julia ist ein Avatar: Sie hat eine digitale Kunstperson fürs Netz erschaffen, mit deren Hilfe sie Kontakte knüpft. Als junges Mädchen ältere Herren aus der Reserve lockt. Um herausbekommen, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hat.
Für ihren Feldzug hat die Computer- und Werbeexpertin eine falsche Identität angenommen und nutzt damit selbst die Methoden der Verbrecher, die sich nicht in den dunklen Ecken des Internets herumtreiben müssen, sondern im geschmackvoll arrangierten Licht von Social Media agieren können. Der Mann, dessen Leiche am Fluss liegt, war vielleicht ein Täter. Aber nicht der, den Julia da Borg für Sinas Tod verantwortlich machen kann. Sie muss weitersuchen. Und bald wird die nächste Männerleiche aus dem Rhein geborgen.
Rachegöttin in Anorak und Wollmütze
Während Odenthal und Stern nach Beweisen suchen, die ihren Verdacht erhärten, erfahren wir immer mehr über Sinas Umfeld und über Julias Schmerz und Schuldgefühle. Bernadette Heerwagen als Julia steht im Mittelpunkt von "Avatar". Ihre ganze schauspielerische Kraft steckt sie in eine starke Frau, die am Ende ist und nichts mehr zu verlieren hat, weil ihr das Liebste schon genommen wurde. Julia ist schwer depressiv, von einer tiefen, verzweifelten Trauer erfasst. Aber sie ist auch eine entschlossene Rachegöttin in Anorak und Wollmütze, die kickboxt und mit dem Meissel zusticht.
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Cyber-Grooming gehört längst zum Standardrepertoire der Nachrichten und damit von Kriminalfilmen. Auch "Avatar" warnt vor den Gefahren des Internets für unsichere Teenager und fügt dem Thema in dieser Hinsicht nichts Neues hinzu. Und wenn man sich von der packenden Musik und Hauptfigur loslöst, fallen ein paar logische Löcher im Plot auf.
Aber geschenkt: Dem Zuschauer die Möglichkeiten und Gefahren künstlicher Intelligenz durch eine brüchige Figur wie Julia näherzubringen, fesselt. Es ist nichts Gutes, was Julia antreibt. Und doch: Tut sie in gewisser Weise nicht etwas Gutes? Dem Drehbuchautor Harald Göckeritz und der expressiven Regie von Miguel Alexandre gelingt es, das Thema so zu erzählen, dass es unter die Haut geht.
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