Der "Tatort: Fährmann" aus Zürich verbindet griechische Mythologie mit Kapitalismuskritik – und es funktioniert.
Es geht herrlich gruselig los: In dunkler Nacht liegt Nebel über dem Wasser. Ein Fährmann rudert ein Boot. Eine grosse Gestalt. Langer Umhang, ernster Blick. Es ist Charon aus der griechischen Mythologie, der die Seelen Verstorbener über den Fluss Styx ins Totenreich hinüberbringt. Vielleicht aber ist es nur eine Halluzination von Marek aus Warschau, der auch gerne arme Seelen ins Totenreich befördert. Und jetzt hat er sich Kommissarin Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zürcher) ausgesucht.
Die schlendert derweil einsam und allein über den Zürcher Adventsmarkt. Alle freuen sich auf Weihnachten, alle haben Pläne – nur sie hat niemanden. Da wird sie von einem Fremden angesprochen. Gross, dunkelhaarig, gutaussehend, teurer Mantel.
Er habe keine Zeit für höflichen Smalltalk, sagt Marek (
"Fährmann" ist ein atmosphärisch fesselnder Psychothriller
So geht er los, der neue "Tatort" aus Zürich, in dem ein unwirklicher Zauber über der Stadt liegt. Nur dass es ein ziemlich böser Zauber ist. "Fährmann" stammt vom Autorenduo Stefan Brunner und Lorenz Langenegger, die mit "Züri brennt" das Schweizer "Tatort"-Team Grandjean und Ott aus der Taufe gehoben und mehrere, nicht immer komplett überzeugende Fälle für sie geschrieben haben.
"Fährmann" aber ist ein schlauer, atmosphärisch fesselnder Psychothriller und demonstriert erneut, dass die Krimis aus der Feder des Duos immer dann am besten sind, wenn sie sich auf die Ermittlerinnen konzentrieren.
Während "Schoggiläbbe" Licht in Tessa Otts Familiengeschichte brachte, steht dieses Mal Isabelle Grandjean im Mittelpunkt. Denn kurz nach ihrer leidenschaftlichen Nacht bekommt sie Post: Eine Karte mit einer seltsamen Botschaft: "Nichts leichter, als in den Hades hinabzusteigen", steht dort.
Dazu Koordinaten, die die Kommissarin zu einer Leiche am Zürichsee führen. Isabelle Grandjean scheint genau zu wissen, was diese Nachricht bedeutet, denn erstens steht ihr der blanke Schrecken ins Gesicht geschrieben und zweitens sucht sie im Mund des Toten sofort nach einer Münze. Findet sie. Und steckt sie ein.
Für Isabelle Grandjean ist es eine persönliche Attacke
Als Staatsanwältin Anita Wegenast (Rachel Braunschweig) und Kollegin Tessa Ott (Carol Schuler) am Schauplatz ankommen, ist ihr Urteil klar: "Koordinaten und Aphorismus. Ein Wichtigtuer", sagt Wegenast. Profilerin Ott bestätigt: eine narzisstische Persönlichkeit. Ein Täter, der Anerkennung suche. An Grandjean gewandt: "Von dir." Für die beiden Profis ist der Tote nur ein weiterer Mordfall.
Für Isabelle Grandjean aber ist es eine persönliche Attacke, die sie in ihren Grundfesten erschüttert: Ja, es geht um sie. Aber es geht nicht um Anerkennung. Jemand will ihr zeigen, dass ein lange zurückliegender Doppelmord, der den Grundstein zu ihrer steilen Karriere legte, keinesfalls schon abgeschlossen ist.
Der Schock lässt Isabelle Grandjean heimlich ermitteln und sogar Beweisstücke verschweigen: Die Silbermünze im Mund des Toten ist der Charonspfennig aus dem Mythos. Wer den Fährmann nicht bezahlt, wird nicht hinübergebracht ins Totenreich, sondern muss am Ufer des Flusses Styx warten. 100 Jahre, bei Nässe, Dunkelheit und Kälte.
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Anders als Isabelle Grandjean wissen wir als Fernsehpublikum, wer dieser "Fährmann" ist. Viel wissen wir anfangs allerdings nicht über ihn. Marek legt Spuren. Ruft an. Lockt und lächelt. Eiskalt und charmant. Selbstbewusst und höchst manipulativ – als Mörder, aber auch in seinem Beruf.
Erst allmählich rundet sich das Bild von diesem in mehrfacher Hinsicht kranken Killer ab. Selbstherrlichkeit und Wahnvorstellung gehen ineinander über: Was bildet dieser Mann sich ein? Dass er ein moderner Charon ist? Ein mächtiger Herrscher über Leben und Tod?
"Fährmann" verbindet griechische Mythologie mit moderner Kapitalismuskritik, und es funktioniert. Die Übergänge zwischen Stxy und Zürichsee scheinen fliessend. Michael Schaerers Regie verwandelt Zürich in einen perfekten Schauplatz für diesen Balanceakt.
Adventsschmuck und Schneeflocken, Konferenzräume und digitale Wandtafeln, Wahnvorstellungen und Traumsequenzen – elegant fliessen die Bilder ineinander über und verleihen der modernen Bankenmetropole einen Hauch von Mythos und Mysterium.
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