Im gestrigen "Tatort: Freitod" tötete eine Krankenschwester ihre Patienten. In der Realität sorgte zuletzt der Fall der Krankenpflegers Niels H. für enormes Aufsehen. Was für Menschen sind diese sogenannten "Todesengel"? Warum töten sie und wie könnte man das verhindern? Ein Professor für Psychiatrie und Psychotherapie gibt Antworten.

Ein Interview

Herr Professor Beine, welche Persönlichkeitsmerkmale haben die Täter gemeinsam, kann man das verallgemeinern?

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Professor Karl H. Beine: Es gibt einige Gemeinsamkeiten bei den Täterpersönlichkeiten: Sie sind überdurchschnittlich selbstunsicher und auf Anerkennung von aussen angewiesen. Wahrscheinlich haben sie den helfenden Beruf auch deshalb gewählt, weil sie sich erhofft haben, dass es ihnen selbst besser geht, wenn sie anderen Leuten helfen.

Ausserdem sind medizinische Berufe mit sehr viel Anerkennung und Respekt verbunden. Wenn ein sehr selbstunsicherer Mensch irgendwann aber merkt, dass diese hohen Erwartungen nicht wahr werden, kommt es zu Verbitterung und Resignation, zum Beispiel, wenn ein Patient nicht gesund werden kann oder es zu Konflikten mit den Kollegen kommt.

Welche Rolle spielt das berufliche Umfeld?

Eine sehr wichtige Rolle. Was man an den Tatorten beobachten kann, ist ein jahrelanger schleichender Prozess der Desensibilisierung, der Gleichgültigkeit. Kollegen und Vorgesetzte reagieren nicht mehr konsequent auf Fehlverhalten, es entsteht zunehmend der Eindruck, dass sich niemand für die eigene Arbeit interessiert und man machen kann, was man will.

Bei einigen Tätern gibt es auch den Umstand, dass sie nicht reden oder nicht reden können. Keiner der Täter hat mit seinen Kollegen, Freunden oder der Familie gesprochen, keiner hat sich professionelle Hilfe geholt und keiner der Täter ist von seinen Kollegen angesprochen worden - obwohl wir hier über Zeiträume von bis zu sechs Jahren sprechen und es eindeutige Hinweise gab.

Was sind denn die konkreten Motive? Tatsächlich der oft bemühte Wille, das Leiden der Patienten beenden zu wollen?

Der ist es in keinem Fall gewesen. Das eine Motive gibt es ohnehin nicht, aber es gibt einen psychischen Prozess, bei dem besonders veranlagte Menschen die eigene Verbitterung, Kränkung oder Resignation in die Umgebung projizieren. Man nennt das "projektive Identifikation".

Das ist nichts anderes als die Tatsache, dass man die Welt mit ganz anderen Augen ansieht, wenn es einem gut geht, weil man zum Beispiel gerade gelobt wurde. In einer solchen Verfassung sieht man die Welt ganz anders, als wenn man zum Beispiel gerade von seiner Frau verlassen wurde.

Bei diesen Tätern ist eine Dynamik in Gang gekommen, in der das eigene Missempfinden die Sicht auf das Leiden der Patienten verändert und gleichzeitig das Leiden der Patienten das eigene Befinden verschlechtert. Das ist eine Abwärtsspirale, in der das Leiden der Patienten und das Leiden der Täter verschwimmen. Am Ende tötet der Täter in einem Akt von verschobenem Selbstmitleid.

Die Täter selbst sagen, sie hätten aus Mitleid gehandelt. Aber Mitleid setzt eine intakte menschliche Beziehung voraus, in der man den anderen kennt und weiss, was der andere will. Die Täter haben ihre Opfer aber nicht gefragt. Kein Opfer hat darum gebeten, getötet zu werden. Insofern ist die These vom Mitleid hier nicht haltbar.

Über wie viele Fälle sprechen wir?

Inklusive des aktuellen Falls von Niels H. gab es in den vergangenen 40 Jahren zehn Tötungsserien.

Wie kann es dazu kommen?

Tötungsserien sind nur deshalb möglich, weil das Umfeld gar nicht reagiert oder wegschaut. Die meisten Menschen sterben ja in Krankenhäusern oder Heimen und die Tötungen sehen aus wie alltägliche medizinische Verrichtungen, also zum Beispiel das Geben einer Spritze. Hinzu kommt, dass ich in einem Krankenhaus am wenigsten erwarte, dass mir dort geschadet wird.

Eine grosse Rolle spielt auch die Arbeitsbelastung in Krankenhäusern und Heimen. Hier ist der Funktionsdruck so hoch, dass sich die Mitarbeiter einen Röhrenblick zulegen. Der ökonomische Druck zerstört die Achtsamkeit und den kollegialen Austausch.

Solche Tötungen wie im Fall von Niels H. aus Oldenburg/Delmenhorst müssen auffallen, denn dann steigen Sterberaten und Medikamentenverbräuche drastisch an oder es wird getuschelt. Das sind Indikatoren, über die geredet werden müsste, aber dafür ist die Zeit in den Kliniken nicht da.

Professor Karl H. Beine ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt des St. Marien-Hospitals in Hamm. In seinem Buch "Krankentötungen in Kliniken und Heimen - Aufdecken und Verhindern" hat er Fälle von Patiententötungen untersucht.

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