"Daniel 12 J ohne Haare" steht auf einem Dia aus der Fotosammlung von Pastor Otto. Dahinter tut sich das Grauen auf: Der "Tatort: Schweigen" glänzt mit einem schwierigen Thema.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Laut dem NDR hat der "Tatort" in seiner über 50-jährigen Geschichte noch nie den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche thematisiert. Das scheint unglaublich, aber es ist ja auch ein schwieriges Thema, an das sich nicht jeder herantraut.

Mehr News zum "Tatort"

So eindeutig die Sachlage und die Rollenverteilung zwischen Gut und Böse für die meisten scheinen dürfte, so kompliziert sind die Verhältnisse für andere. "Schweigen" erzählt von beidem: Zum einen von einem Ekel erregenden Pastor und seinen Ekel erregenden Vergehen.

Zum anderen davon, wie schwierig sich seine Gemeinde tut, ihn als das zu bezeichnen, was er laut Kommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) nun einmal ist: ein Schwein. Ein traumatisierendes Monster, an dessen Taten seine Opfer ihr Leben lang leiden.

"Tatort: Schweigen": Auszeit ist kein besinnliches In-sich-Kehren zu gregorianischen Klängen

Das einzig unglaubwürdige an diesem "Tatort" ist die Ausgangslage: Falke ist ins Kloster gegangen. Würde sich ausgerechnet dieser selbst ernannte Hamburger "Strassenbulle", der mit der Kirche noch nie etwas am Hut hatte, ein Gotteshaus aussuchen, um bei Gartenarbeit und Suppe den Tod der Kollegin Grosz zu verarbeiten?

Aber dieser Kniff erlaubt es Drehbuchautor Stefan Dähnert, Falke tiefer in die Schlammgrube zu stossen, als es mit einem Kommissar möglich gewesen wäre, der das Kloster aus rein professionellen Gründen besucht.

Zumal er Falke auch hier Falke sein lässt: Diese Auszeit ist kein besinnliches In-sich-Kehren zu gregorianischen Klängen. Falke hat nach wie vor Alpträume vom Tod der Kollegin, er trinkt Schnaps in Mengen und unternimmt im Kloster mit seinem Zimmergenossen und neuen Freund Daniel (Florian Lukas) betrunken dummes Zeug.

Man hat gemeinsam mit Falke sofort eine Ahnung vom Ausmass des Grauens

Eigentlich feiert er seinen Abschied – aber dann kommt in genau dieser Nacht Wieland Otto (Hannes Hellmann), der Pastor der Gemeinde, bei einem Brand ums Leben. Und weil die örtliche Kommissarin Eve Pötter (Lena Lauzemis) angesichts ihres ersten Mordfalls ziemlich aufgewühlt und überfordert scheint, mischt sich Thorsten Falke in die Untersuchungen ein.

Dabei machen er und Pötter einen schrecklichen Fund: Akribisch genau hat Otto Fotos von den Jungen in seiner Kirche und dem Fussballverein, dessen beliebter Trainer er war, katalogisiert.

Über Jahre hinweg. "Daniel 12 J keine Haare" steht da zum Beispiel auf einem Diarahmen. Nur das sommerliche Porträt eines blonden zwölfjährigen Jungen mit einem Ball unterm Arm, der unsicher in die Kamera blickt. Aber man hat gemeinsam mit Falke sofort eine Ahnung vom Ausmass des Grauens.

Die Kirchenoberen mauern

Was folgt, ist ausserdem das ganze Ausmass der Lügen. Die Kirchenoberen mauern. Kommissarin Eve Pötter ist betendes Gemeindemitglied, ihr Sohn Lukas (Jakob Kraume) war sogar in Pastor Ottos Fussballmannschaft. Aber ihre bevorzugte Reaktion auf jedes Ermittlungsergebnis ist ein heftiges Sich-Bekreuzigen.

Lena Lauzemis spielt sie als eine wie in einem Alptraum gefangene Schlafwandlerin und macht Eve Pötters lange Weigerung, sich den Tatsachen zu stellen, dadurch nachvollziehbar, ohne die Frau zu entschuldigen. Wie sie meistert auch Florian Lukas als Daniel seine schwierige Rolle mit Bravour: Natürlich ist er der "Daniel ohne Haare" vom Dia. Warum aber ist er als Erwachsener freiwillig an den Ort des Grauens zurückgekehrt? Der Kommissar schwankt zwischen Sorge und Verdacht.

Aber Falke wäre nicht Falke, wenn er mit der Doppelrolle als Freund und Ermittler nicht klar käme. Ähnlich wie schon bei Mark Waschkes Alleingang als Kommissar Karow im Berliner "Tatort: Das Opfer" ist es ein Vergnügen, Wotan Wilke Möhring als Alleinermittler zu erleben, der emotional ungewöhnlich stark herausgefordert wird und sich doch treu bleibt: ein Kommissar als weltlicher Kreuzritter wider das Böse.

Denn womit Falke weniger gut klar kommt, ist die Tatsache, dass so viele Betroffene scheinbar unbeirrt nicht nur an ihrer Religion, sondern auch an der Kirche festhalten. Gepackt von Unglauben, Entsetzen und Wut, stellt Kommissar Falke stellvertretend die Fragen, die sich die Öffentlichkeit seit Jahren stellt. "Ich versteh das nicht", ruft er einmal, "ich versteh das einfach nicht." Wie könne man, wider besseres Wissen, schweigen und "auch noch in diesem Scheissverein anheuern".

Überzeugende Antworten darauf gibt auch dieser "Tatort" trotz des differenzierten Drehbuchs und seinem ausgezeichneten Ensemble unter der sensiblen Regie von Lars Kraume nicht. Aber er verweigert auch einfache Lösungen. "Man kann nicht in die Falten der Seele schauen" sagt ein Ordensbruder zwar einmal zu Falke. Aber solche Plattitüden stehen in "Schweigen" zum Glück ziemlich alleine da.

Die Taten einzelner Kirchenmänner sind abstossend und unverzeihlich. Der angerichtete Schaden bei ihren jugendlichen Opfern wenn überhaupt nur schwer zu reparieren. Die Bereitwilligkeit von Gläubigen, ihrer Institution zu verzeihen, ist für Aussenstehende unbegreiflich. Damit erzählt "Schweigen" über die Kirche nichts Neues, aber immerhin: Jetzt erzählt auch der "Tatort" davon.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.