Eine etwas ulkige Truppe trinkfester Gesellen – so präsentierte uns der gestrige "Tatort" die drei Obdachlosen, die Zeugen eines Mordes wurden. Das Opfer wiederum ist durch das Betreiben einer Obdachlosenunterkunft reich geworden. Ist das realistisch? Wir haben mit Rolf Keicher von der Diakonie Deutschland über Obdachlosigkeit gesprochen.
Herr Keicher, wer hat denn überhaupt Anspruch auf Obdachlosenhilfe in Deutschland?
Rolf Keicher: Da muss man unterscheiden. Es gibt einmal die sogenannte ordnungsrechtliche Unterbringung, das heisst, wenn jemand ohne Obdach auf der Strasse steht und nicht weiss, wo er unterkommen kann, dann gibt es einen ordnungsrechtlichen Anspruch auf Unterbringung. Das kann zum Beispiel eine Unterbringung bei der Polizei bedeuten, gemeint ist aber erst einmal, dass die Person vor der Witterung geschützt ist.
Grundlage sind hier die Polizeigesetze der Länder, denn Obdachlosigkeit wird als Ordnungswidrigkeit eingestuft und die Polizei ist zur "Beseitigung" dieses ordnungswidrigen Zustandes verpflichtet. Das ist ein kurioser Ansatz, weil hier nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern die Ordnungswidrigkeit.
Daneben gibt es noch die sogenannte qualifizierte Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, also wenn jemandem über eine Beratungsstelle geholfen wird. Das soll die Existenz, den Zugang zu einer Wohnung und zu einer Arbeit sichern. Das ist nach dem Sozialgesetzbuch zwölf geregelt und richtet sich vornehmlich an deutsche Staatsbürger.
Welche Ansprüche ergeben sich aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) für Obdachlose?
Der materielle Anspruch wird in der Regel über das Arbeitslosengeld abgedeckt. Ein Mensch ohne Wohnung ist meist erwerbsfähig. Das heisst, er muss zum Jobcenter gehen, einen Antrag stellen und erhält darüber die materielle Sicherung. In der Praxis gibt es natürlich Gründe, warum das trotzdem nicht klappt, aber das steht auf einem anderen Blatt. Daneben haben Menschen ohne Wohnung Anspruch auf persönliche Hilfe. Die richtet sich dann nach Sozialgesetzbuch zwölf.
Im "Tatort" bekommt der Betreiber einer Obdachlosenunterkunft 15 Euro pro Tag und Person. Ist das realistisch?
Dieser Betrag von 15 Euro könnte sich aus dem Regelbedarf für jemanden ableiten, der nach SGB zwei unterstützt wird, also die 404 Euro für die Lebenshaltungskosten plus den Anteil für die Unterkunft. Vorstellbar wäre demnach, dass ein Betreiber sagt: Wir verpflegen euch voll, dafür tretet ihr uns eure Leistungen ab, die ihr bekommt. Aber daraus kann man sich nicht bereichern, man muss ja entstehende Kosten gegenrechnen.
Dass sich jemand durch ein Obdachlosenheim bereichert, ist also nicht realistisch?
Theoretisch ist so etwas natürlich möglich. Genauso wie es möglich ist, dass jemand bei der Steuer betrügt. Es gab einmal einen Fall in Berlin, der in den Medien für Aufsehen sorgte. Dort fuhr jemand, der sich in der Wohnungslosenhilfe engagiert hat, mit einem Maserati herum. So etwas gibt es natürlich. Man muss dabei aber bedenken, dass man im sozialen Bereich die Merkmale von Wettbewerb eingeführt hat. Wenn man nach diesen Prinzipien arbeitet, kann man das aber dann eigentlich niemandem vorwerfen.
Trotzdem ist das natürlich heikel, weil man jemandem, der sich für Obdachlose engagiert, zuerst einmal Altruismus und nicht Gewinnabsicht unterstellt.
Das ist richtig. Aber wenn man von einer Erstattung der Kosten auf ein Wettbewerbsprinzip umstellt, bringt das solche Erscheinungen natürlich mit sich. Dann wird man natürlich in dem einen oder anderen Bereich wirtschaftlicher arbeiten. Wenn man zum Beispiel die Mitarbeiter schlechter bezahlt oder den Betreuungsschlüssel ändert.
Im "Tatort" werden Obdachlose etwas klischeehaft dargestellt. Gibt es so etwas wie den klassischen Weg in die Obdachlosigkeit?
Einen klassischen Weg gibt es nicht. Aber was man oft sieht, ist, dass jemand seine Arbeit verliert. Arbeitslosigkeit macht krank, dann kommen manchmal noch Depressionen dazu und irgendwann öffnen die Betroffenen die Post von den Ämtern nicht mehr. Das wiederum führt zu Leistungseinstellungen, Mietversäumnissen und am Ende steht dann der Verlust der Wohnung. Die Entscheidung, wohnungslos zu werden, trifft eigentlich niemand. Es sind eher Nicht-Entscheidungen: nicht die Post zu öffnen, sich keine Hilfe zu suchen, nicht zur Beratung zu gehen.
Gerade in so einer Situation ist Eigeninitiative für die Betroffenen aber aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Gibt es einen Mechanismus, durch den Hilfe von aussen automatisch anspringt?
Leider nicht flächendeckend. Aber es gibt ein vorbildliches Modell in Heide, bei dem Diakonie und Kommune bei drohenden Fällen von Wohnungsverlust zusammenarbeiten. Sobald zum Beispiel eine Räumungsklage bei Gericht eingereicht wird, wird diese Stelle informiert und es wird gegengesteuert, um die Wohnung zu behalten. Das ist sehr aufwendig, weil man alles unternehmen muss, um Menschen direkt anzusprechen, die von sich aus keinen Kontakt zum Amt aufnehmen. Es ist wichtig, kommunale Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungsverlust flächendeckend einzurichten.
Welches Klischee über Obdachlosigkeit würden Sie gerne einmal ausräumen?
Was mich manchmal ärgert ist die Romantisierung der Obdachlosigkeit. Hin und wieder trifft man Betroffene, die das cool finden. Häufig steckt hinter dem vermeintlichen Freiheitswunsch aber einfach die schlechte Erfahrung mit Ämtern. Bei Menschen, die in Beratungsstellen kommen, haben eigentlich 99 Prozent den Wunsch, eine Wohnung zu finden.
Rolf Keicher ist Referent für "Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen" bei der Diakonie Deutschland.
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