Eine politische Fanatikerin. Ein dunkler Kinosaal. Ein Dutzend Geiseln und der Kommissar mitten unter ihnen: "Verblendung" ist ein mitreissendes Psychodrama.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Was für ein Alptraum. Da wollte man einfach nur ins Kino gehen und endet als Geisel einer politischen Fanatikerin. Eine Pistole ist auf Kommissar Sebastian Bootz gerichtet. Er schwitzt. Ist das Angst in seinen Augen? Das ist auf jeden Fall kein cooler Held mit einem flotten Spruch auf den Lippen. Das ist ein Mann, dem der Ernst der Lage und die Gefahr vollkommen bewusst sind.

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Die Geiselnehmerin hat ein Ultimatum gestellt. Sie zählt den Countdown herunter. Am anderen Ende der Telefonleitung fleht Bootz' Kollege Thorsten Lannert um mehr Zeit: Zwei Minuten, bitte! Vergeblich: Drei, zwei, eins – dann fällt ein Schuss. Dunkelheit.

So geht er los, der neue "Tatort", und schon kann man kaum erwarten zu erfahren, was passiert. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Bootz überlebt – es ist ja nichts bekannt von einem Ausstiegswunsch des Darstellers Felix Klare aus dem Stuttgarter "Tatort": Die Anspannung, das Tempo, die Nahaufnahmen haben schon jetzt eine Intensität geschaffen, der man sich nur schwer entziehen kann. Und "Verblendung" hält, was der starke Anfang verspricht.

Kommissar Sebastian Bootz verletzt einen Geiselnehmer

Neun Stunden zuvor beginnt die Geschichte. Thorsten Lannert (Richy Müller) ist zu einer hochoffiziellen Stuttgarter Filmpremiere eingeladen. Aber er hat ein Date und überredet seinen Kollegen Bootz (Felix Klare), ihn zu vertreten. Der tut einem am Abend schon beim Vorgeplänkel an den runden Stehtischen leid: nichtssagendes Blabla vom Polizeichef (Christian Körner), Smalltalk vom Staatssekretär (Kais Setti). Alle wollen sich nur selbst reden hören. Bootz ist ein kleiner Fisch, den niemand ausreden lässt.

Doch wenig später wird er im Mittelpunkt stehen: Nach ein paar Minuten reisst die Aufführung des geplanten Dokumentarfilms über das Kriegsende in Baden-Württemberg 1946 ab. Stattdessen sind Bilder von toten Gefängnisinsassen zu sehen. Anders als berichtet, seien sie nicht eines natürlichen Todes gestorben, so eine anklagende Stimme aus dem Off, sondern als "Helden des nationalen Widerstandes" von höchster Stelle umgebracht worden: "Dieser Staat mordet", "politische Gegner werden systematisch aus dem Weg geräumt".

Die anfängliche Verwunderung der geladenen Gäste schlägt in Panik um, als Schüsse fallen. Bootz verletzt einen der beiden Geiselnehmer (Christoph Franken), aber das steigert nur die Wut und das Gebrüll der jungen Frau, die die Anführerin der Aktion zu sein scheint. Karin Urbanski (Anna Schimrigk) nimmt über Bootz' Telefon Kontakt mit Lannert und dem Einsatzkommando der Polizei auf. Das sitzt in einem leer stehenden Einkaufszentrum nebenan, in ähnlich schummrigem Licht wie die Gefangenen.

Die Instrumentalisierung der Demokratie für politischen Extremismus

Urbanskis Forderung: Die Freilassung zweier politischer Gefangener aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim sowie ein Geständnis und eine Entschuldigung des baden-württembergischen Innenministers. Bis zur Erfüllung ihres Ultimatums werde jede Stunde eine Geisel erschossen – und mit ihrer perfiden Methode beweist Karin Urbanski kurz darauf, wie ernst es ihr ist: Sie wird immer zwei aus der Gruppe auswählen, der Rest soll abstimmen, wer getötet wird. Die Instrumentalisierung der Demokratie für politischen Extremismus.

In den Geiseln auf der Bühne des Kinosaals ist Deutschland quasi vollständig vertreten: der Politiker mit Migrationshintergrund zum Beispiel, ein Allgemeinmediziner mit AfD-Parteibuch (Christoph Glaubacker), eine linke Journalistin (Jessica Mcintyre) als Vertretung der vierten Staatsgewalt. Und natürlich die Polizei in Gestalt von Bootz.

Der hat bald alle Hände voll damit zu tun, nicht nur die hektische Geiselnehmerin zu beruhigen, sondern auch an das moralische Gewissen seiner Mitgefangenen zu appellieren. Denn das Erschreckende ist, dass die Geiseln willfährig bei dem zynischen Abstimmungsverfahren mitmachen. Als sei man in einer dystopischen Game-Show und nicht in den Händen einer wahnhaften Fanatikerin, die so beseelt ist von der eigenen Rechthaberei und Macht, dass sie auch über die Leiche ihres verblutenden Mitstreiters zu gehen bereit ist. Derweil versucht Lannert, seinen Kollegen von draussen zu unterstützen – getrieben vom schlechten Gewissen und dem Argwohn des Einsatzkommandos, Bootz könnte ein Maulwurf der Terroristen sein.

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"Verblendung" ist ein mitreissendes minimalistisches Psychodrama

Natürlich lässt sich "Verblendung" als Beitrag über die fliessenden Grenzen zwischen rechten Verschwörungstheorien und linkem Extremismus lesen – das Vokabular, mit dem Karin Urbanski um sich schmeisst, wimmelt nur so von anklagenden Polit-Phrasen, die sich in rechten Foren ebenso finden wie in Dokumenten des linken Terrorismus. Denn natürlich spielt "Verblendung" auch mit der zentralen Rolle Stuttgarts zu Zeiten der Roten Armee Fraktion (RAF) – die in Stammheim Inhaftierten, die Karin Urbanski befreien will, sehen aus, als seien sie direkt aus der Terroristen-Kostümkiste der 70er Jahre geklettert.

Vor allem aber ist "Verblendung" ein mitreissendes minimalistisches Psychodrama, in dem die Anspannung stetig zunimmt. Katharina Adler und Rudi Gaul (der ausserdem Regie geführt hat) erzählen ihre Geschichte mit einer überschaubaren Zahl von Akteuren in einem begrenzten Raum. Die Handlung konzentriert sich weitgehend auf den dunklen Kinosaal und die notdürftig aufgebaute Einsatzzentrale. Licht und Kameraperspektiven vermitteln zum Zerreissen gespannte Nerven, Angst und gegenseitiges Misstrauen. Der Rechtsstaat gerät buchstäblich ins Schwitzen, und wenn er siegt, dann zu einem hohen Preis.

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