"Der feine Geist" ist ein dramatischer und zugleich melancholischer "Tatort"-Jahresauftakt. In seinem vorerst letzten Fall als Kommissar Lessing untersucht Christian Ulmen den Mord an einem Geldboten. Ronald Zehrfeld spielt dessen verdächtigen Chef, einen Papageienzüchter in Sandalen mit esoterischen Ritualen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Jahreseröffnungstatort am 1. Januar kommt aus Weimar. Aber für uns Fans des Weimarer "Tatort" fängt das neue Jahr trotzdem furchtbar an. Ganz, ganz furchtbar: Erst wurde bekannt, dass Christian Ulmen aufhört und in Zukunft höchstens noch Gastauftritte als Kommissar Lessing haben wird. Dann stellte sich heraus, dass es 2021 keinen weiteren "Tatort" des MDR geben wird, weil der Sender durch die Corona-Pandemie in Nachschubschwierigkeiten geraten ist.

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Und dann geht die Folge auch noch damit los, dass Kurt Stich seinen Posten als Kommissariatsleiter auf- und bald bekannt geben will, wer ihm nachfolgt.
Die "Bild"-Zeitung enthüllte in dem Zusammenhang einen Spoiler, den echte Krimi-Fans nie verraten hätten und den wir hier deshalb nicht wiederholen wollen.

"Tatort" aus Weimar: Lupo ohne Lessing & Dorn – wie soll das funktionieren?

Sie zitiert ausserdem Arndt Schwering-Sohnrey, den Darsteller von Polizist Lupo, der sich angeblich Gedanken über einen "Tatort"-Ableger macht: "Ich habe viel über eine eigene Serie für Lupo nachgedacht, in der es um Kira, Kakao und Kriminalität geht." So sehr wir die Figur Lupo und sein Faible für die Kommissarin und das Heissgetränk schätzen - hoffen wir mal, dass ihm da nur kurz die Milch übergekocht ist.

Lupo ohne Lessing & Dorn – wie soll das denn funktionieren? Schwer genug, sich den "Tatort" ohne Lessing vorzustellen, ohne diesen Ruhepol, der mit seinem Feingefühl und seinen tiefsinnigen Klassikerzitaten immer dafür sorgt, dass die skurrilen, makabren Weimarer Fälle nicht völlig über- und durchdrehen.

Dorn: "70 Prozent aller Morde werden innerhalb der Familie verübt"

Schon seinen vorerst letzten Fall löst er aus der Ferne: Mit Kira Dorn (Nora Tschirner) wird Lessing zufällig Zeuge eines Überfalls auf einen Geldboten. Beide verfolgen den Mörder in die Parkhöhle, Weimars unterirdisches Stollensystem im Park an der Ilm. Wie aus der Zeit gefallen scheinen die melancholischen Bilder und passen perfekt zum Thema: Lessing wird angeschossen und seine besorgte Ehefrau schickt ihn ins Krankenhaus – von wo aus der Kommissar der Kollegin mit Rat und Zitat zur Seite steht.

Während für Noch-Kommissariatsleiter Stich (Thorsten Merten) die Sache klar ist – Raubüberfall aus Geldnot –, kommt Kira Dorn die Sache komisch vor: Der Mord sieht zu sehr nach einer gezielten Exekution aus. Und schon kommt es zum nächsten Überfall, wieder auf einen Geldboten, wieder ein Schuss aus nächster Nähe.
Auf der Suche nach persönlichen Hintergründen landet die Kommissarin beim Sicherheitsdienst Geist Security, der die Geldboten stellte. Der selbst vorbestrafte Inhaber beschäftigt in seiner Firma nur Straffällige, um ihnen Perspektive und ein neues Leben zu ermöglichen: "Wir sind wie eine Familie", sagt John Geist, und das wiederholen auch seine Mitarbeiter wie ein Mantra. Kira Dorn lässt sich nicht bezirzen: "70 Prozent aller Morde werden innerhalb der Familie verübt."

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Ronald Zehrfeld: Ein fliessender Übergang zwischen Gut und Böse

Zumal John Geist von Ronald Zehrfeld gespielt wird, und der ist im deutschen Prime-Time-TV schliesslich so etwas wie der Experte für einen fliessenden Übergang zwischen Gut und Böse. Zehrfeld lässt mühelos ahnen, wie schnell John Geists bärenhafte Beschützerkraft in Gewalt umschlagen könnte, ohne dass er mit den Muskeln zucken muss. Auch die restlichen Rollen sind exzellent besetzt, bei Geist Security arbeitet niemand, dem man nicht eine kriminelle Vergangenheit zutrauen und einen Neuanfang wünschen würde.

Spirituellen Ausgleich zu seiner sehr weltlichen Arbeit findet John Geist in der Zucht seltener Papageien und Kakadus. Der Verein, den er ganz ordentlich gegründet hat, heisst "Spirit Animals e.V.". Seine Security-Schützlinge nennen ihren Chef Vogelflüsterer und sammeln klaglos Vogelkot aus den Käfigen ein.

Dann aber stellt sich heraus, dass es mit der Zucht der wertvollen Tiere doch nicht ganz so legal zugeht, wie es den Anschein hat. Offenbar bieten die Vögel dem Verein nicht nur Halt und Ruhe, sondern auch viel Geld. Und eine korrupte Abteilungsleiterin im Landesverwaltungsamt scheint dem Verein die bürokratischen Hürden zu ebnen. Maike Viebrock (Inga Busch) teilt mit John Geist nämlich die Leidenschaft für exotische Vögel. Praktischerweise gilt ihre zweite Leidenschaft Kommissar Stich, was dieser selbstlos für ein Ablenkungsmanöver nutzt: Während Kollegin Dorn Maike Viebrocks Wohnung durchsucht, sehen wir den Chef in Unterhose beim Haschmich-Spiel mit der alten Flamme.

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Wunderbar Weimar: Zwischen Slapstick-Humor und Luxus-Kakaoautomaten

Dieser Slapstick-Humor ist vielleicht ein bisschen arg albern, in der "Tatort"-Welt Weimars aber nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig wie die riesige Neuanschaffung im Polizeigebäude: Kollege Lupo, fest davon überzeugt, Stichs Nachfolger zu werden, hat für "seine" Leute schon mal einen Luxus-Kakaoautomaten bestellt, den "Schoko-Luko". Eine typische Lupo-Aktion. Auch der Vogelflüsterer John Geist mit seinen esoterisch angehauchten Ritualen und Sandalen: Wunderbar Weimar eben.

Doch dann kommt es. Das Ende. Und zeigt, dass alles nur eine perfide Ablenkungsaktion war, ziemlich meisterhaft inszeniert von Drehbuchautor Murmel Clausen und Regisseurin Mira Thiel. Um uns in Sicherheit zu wiegen.

Denn am Schluss wird alles anders, und zwar nicht nur im üblichen "Nichts ist wie es scheint"-Krimi-Sinn. Für uns Weimarer "Tatort"-Fans bricht eine Welt zusammen. Aber dann entsteht sie neu. Und der "Tatort" Weimar wäre nicht der "Tatort" Weimar, wenn die Grenze zwischen diesen Welten nicht ziemlich fliessend wäre.

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