Mehr Urlaub im mittelalterlichen Japan als eine echte Gameplay-Herausforderung bietet "Infamous"-Macher Sucker Punch mit einer wunderschönen Open-World-Mär für die PS4: Um seine Insel-Heimat von mongolischen Eroberern zu befreien, muss ein junger Samurai in "Ghost of Tsushima" mit seinem Ehrenkodex brechen.

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Scharfe Schwerter, grazile Kampfkunst, ein knallharter Ehrenkodex und offenbar ein starker Hang zum Selbstmord, sobald die eigene Ehre oder die des Dienstherrn befleckt wird: Das ist das Bild, das die meisten Nippon-Fans von den Samurai haben.

Spätestens seit Filmklassikern wie Akira Kurosawas "Die sieben Samurai" (1954) hat sich das japanische Pendant zu den europäischen Rittersleuten einen festen Platz in der weltweiten Popkultur erobert, auch modernere Kino-Stoffe wie Tarantinos "Kill Bill"-Filme tun sich bei dem Genre gütlich.

In der Realität hatten die Samurai aber - nicht wie in Anime-Serien gerne dargestellt - weniger Probleme mit irgendwelchen "Kami" (Geistern) oder vielarmigen Schlabbermaul-Dämonen, sondern mit Eroberern und anderen Usurpatoren. Schon lange bevor Briten, Holländer und Amerikaner mit ihren "Schwarzen Schiffen" vor Nippons Küsten ankerten, wollten sich die Mongolen unter ihrem Herrscher Kublai Khan das Reich der aufgehenden Sonne einverleiben: Im Jahr 1274 landete eine riesige Invasionsflotte vor den Küsten Japans und eine der ersten Inseln, die von dem Ansturm überrollt wurden, war Tsushima - der Schauplatz des neuen Open-World-Abenteuers von "Sly Raccoon"- und "Infamous"-Macher Sucker Punch.

"Ghost of Tsushima" ungewohnt bodenständig

Das bemüht sich sogar halbwegs erfolgreich darum, mit historischer und kultureller Akkuratesse zu überzeugen. Auch wenn Front-Samurai Jin Sakai - Neffe des von den Mongolen gefangen genommenen Provinzfürsten Shimura - im Laufe des Spiels einige Werkzeuge und Fähigkeiten erhält, die ins Reich Hollywood-inspirierter Fantastereien gehören, gibt sich das Abenteuer insgesamt überraschend bodenständig.

Abgesehen davon vielleicht, dass Jin - wie die meisten anderen seiner Open-World-Kollegen - weder Schlaf noch Nahrung braucht, wenn er wie eine Schwert-schwingende Kampfmaschine über die Insel reitet, marschiert und marodiert, während er nach kampftauglichen Verbündeten für den Showdown gegen die Fieslinge sucht. Auch seine Wunden muss der wackere Krieger nicht verarzten - er beisst einfach ordentlich die Zähne zusammen, zehrt zwecks Spontan-Heilung von seiner aus erfolgreichen Kampfmanövern generierten "Entschlossenheit" und schwingt dann tapfer weiter sein Katana.

So attackiert Jin seine Widersacher aus verschiedenen Haltungen heraus und erlernt mit der Zeit immer raffiniertere Angriffs- und Verteidigungsmanöver - aber Kampfspiel-typische Special-Moves und Fingerbrecher sucht man in "Ghost of Tsushima" vergeblich. Auf diese Weise wird das Abenteuer auch für solche Gamer zugänglich, die zwar gerne auf den Pfaden der Samurai wandeln wollen, die sich mit dem eskapistischen Button-Gehämmer aus japanischen Prügelspiel-Fabriken aber überfordert fühlen.

Überraschend ist dabei ausserdem, dass Entwickler Sucker Punch auf die für Schwertkämpfe typischen Brutalitäten verzichtet: Obwohl in "Ghost of Tsushima" eine Menge Bildschirmblut fliesst, landen weder abgetrennte Köpfe noch Gliedmassen im Textur-Schmutz. Das ist zwar nur leidlich realistisch (beim Kampf mit Katana und Co. werden nun mal Körperteile abgetrennt), aber es schont das zarte Spieler-Gemüt.

Zu wenig Entscheidungsfreiheit in "Ghost of Tsushima"

Ein wenig plump wirkt dagegen die regelmässige Rechtfertigung des Massakers: Mehr als einmal versucht Jin, seine Taten zu legitimieren, indem er hinterrücks vollzogene Morde an Mongolen mit Phrasen wie "Es ging nicht anders" oder "Ich hatte keine Wahl" kommentiert. Damit spielt der junge Fürst Sakai allerdings auch auf den simplen Umstand an, dass ihm als Samurai Schleicherei und Mord-Manöver aus dem Schatten eigentlich zuwider sind. Er bevorzugt einen offenen und ehrlichen Kampf - aber den Krieg gegen die Übermacht der Mongolen kann er nur gewinnen, wenn er wie ein Geist über seine Feinde kommt ... als "Geist von Tsushima". Dass sich fast alle Kämpfe offensiv genauso erfolgreich bestreiten lassen wie im Schleichgang, mutet dabei allerdings etwas skurril an.

Ausserdem verzapft "Ghost of Tsushima" leider immer wieder die Sorte von Story-Stuss, den man von Open-World-Spielen mittlerweile gewöhnt ist und bei dem das Welten- beziehungsweise Spiel-Design mit der Erzählung konterkariert: So wird Jin von einem alten Kampfgefährten darum gebeten, für ihn und seine Bande aus "Strohhut-Söldnern" in mongolischen Lagern Nahrung zu mopsen, damit die Truppe nicht verhungert. Und das, obwohl überall Rehe, Hasen, Wildschweine und ähnlich leckeres Getier durchs hohe Gras wetzt und Jin selber unzählige Vorrats-Säckchen im Helden-Gepäck rumschleppt. Weil die aber - ebenso wie diverse Holz-, Metall- und Stoff-Sorten - zu den Ressourcen gehören, mit denen Jin bei Handwerkern Schwert, Rüstung oder Bogen aufwerten lässt, dürfen sie nicht zur Fütterung der darbenden Strohhüte eingesetzt werden.

Ertragreiche Insel-Idylle

Dennoch: Obwohl es etwas enttäuscht, dass der eigentlich Open-World-erfahrene Entwickler Sucker Punch für seine versprengten Story-Fragmente noch immer kein brauchbares Bindemittel gefunden hat, sabotieren solche Ausrutscher die Atmosphäre des Spiels kaum - denn "Ghost of Tsushima" ist ein echtes Stimmungs-Schwergewicht:

Die idyllische Natur der Insel verzaubert mit revolutionär schönen Wetter- und Partikel-Effekten, die Blätter, Staub, Samenhülsen und Schmutz-Teilchen illustrativ durch die Luft wirbeln lassen. Derweil rauscht der Wind durchs hohe Gras, bringt Baumkronen durcheinander und lässt die Gehölze knarzen, die Jin auf dem Rücken seines Streitrosses durchquert. Vorbei an malerischen Schreinen, Dörfern, Friedhöfen, einem gigantischen Meer aus bunten Blumen - und natürlich mongolischen Feldlagern, die nur darauf warten, zuerst entvölkert und dann abgefackelt zu werden.

Zusätzlich zur vollen Dröhnung Natur gibt es natürlich - Genre-typisch - reichlich zu sammeln: Durch die Führung von goldenen Vögeln, handzahmen Füchsen oder mithilfe speziell für ihn angefertigter Kletter-Werkzeuge entdeckt Jin kleine Schreine, geheimnisvolle "Säulen der Ehre", heisse Quellen für die Aufstockung der maximalen Lebensenergie und sogar idyllische Plätzchen für die Dichtung eines "Haiku" - einer besonders minimalistischen Form der japanischen Lyrik.

Das letzte grosse Exklusivspiel für die PS4 macht die üppige Natur des Insel-Universums zu seinem Verbündeten und kaschiert damit geschickt, dass es auf Tsushima im Grunde nur wenig zu tun gibt und die offene Spielwelt vor allem eins ist: Eine prachtvoll illustrierte Wegstrecke, die man zurücklegen muss, um von einer Mission zur nächsten zu gelangen.

Und die man grösstenteils damit verbringt, Mongolen zu verdreschen oder all den anonymen Krempel aufzuklauben, den man zur Verbesserung des eigenen Samurai-Konterfeis benötigt.

Innovation sucht man auf der Insel also vergebens - aber Spass macht die Mixtur aus seichtem Storytelling, dynamischen Schwertkämpfen und fesch präsentierter Schuh- beziehungsweise Hufeisen-Abnutzung trotzdem eine Menge. Wer frei begehbare Spielwelten liebt, reist gerne nach Tsushima. Die bekannte Open-World-Formel wirkt inzwischen reichlich abgenutzt - aber dieser eine Ausflug geht noch. (tsch)


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