Im südfranzösischen Arles läuft derzeit das grösste jährliche Treffen der Fotografie. Viele Schweizer Fotografen treten im "Espace Nonante-neuf" auf, der sich dieses Jahr neu im Stadtzentrum befindet. Schweizer Werke stehen im Zentrum von nicht weniger als 14 Ausstellungen. Eine Liebesgeschichte, oder schon fast eine "Kolonialisierung"?

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Wer im Sommer die Stadt Arles in der südfranzösischen Provence besucht, staunt ob der grossen Schweizer Präsenz. An den "Rencontres de la Photographie" können Kulturtouristen die Ausstellungen im "Nonante-neuf" ("99") besuchen, dem Herzen des Schweizer Auftritts, und sich dann auf einer Chaiselongue ausruhen, auf der "Unter dem Pflaster liegt die Schweiz" eingraviert ist.

Man trifft auf Studierende der Kinohochschule Lausanne (Ecal) und der Kunst- und Designhochschule Genf (Head). Und wird begeistert sein von den Arbeiten der grössten Schweizer Fotografen, namentlich Robert Frank und René Burri.

Nicht weniger als 14 Ausstellungen an der Fotografie-Messe hätten zumindest teilweise mit der Schweiz zu tun, sagt Nicolas Bideau, Leiter von Präsenz Schweiz. Die Bundesagentur im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist für das "Nation Branding" der Schweiz zuständig.

Zur Eröffnung des neuen "Nonante-neuf" am 4. Juli fanden auch Genfs Bürgermeister Sami Kanaan und Thierry Apothéloz, neugewähltes Mitglied der Genfer Kantonsregierung, den Weg ins historische Stadtzentrum.

Doch warum bezieht die Schweiz im Juli ihre Quartiere in Arles? "Weniger bekannte Facetten des Schweizer Kunstschaffens zu zeigen, gehört ebenfalls zu unserem Auftrag", sagt Bideau, der auch für das "99" verantwortlich ist.

"Arlesianisch"

Wie kommen die Franzosen mit diesem Schweizer Übergewicht klar? Glauben sie gar bereits an eine neue Form der "Kolonialisierung"? "Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass es nirgendwo eine Flagge zu sehen gibt", sagt Bideau. Nachdem das Schweizer Hauptquartier während drei Jahren in den ehemaligen Werkstätten der Französischen Nationalbahnen (SNCF) untergebracht war, "besetzt" es nun einen ehemaligen Handwerksbetrieb und das heruntergekommene Gebäude daneben.

"Es ist ein Provisorium, unsere Präsenz hier ist nomadisch, unkonventionell, 'arlesianisch'", sagt Bideau. Ausserdem ist jene Schweiz, die an den Wänden des "Nonante-neuf" zu sehen ist, eher unerwarteter Art: Bilder vom Mai 1968 und der Zeit danach aus Zürich, Genf und Lausanne.

Unveröffentlichtes von Robert Frank

Doch die Schweiz ist nicht nur im "99" präsent. Dieses Jahr besteht die Hauptausstellung aus einer Hommage an den grossen Schweizer Fotografen Robert Frank. "Unsere Partnerschaft mit der Schweiz besteht nicht aus der Programmierung von Schweizer Künstlern", sagt Sam Stourdzé, Direktor der "Rencontres".

Er betont dies, wie wenn er damit jeglichen Verdacht auf "Helvetophilie" entkräften möchte. Bevor Frank als Schweizer gelte, sei er schliesslich einer der Gründer des Fotoessays gewesen und der weltbekannte Autor des Fotobuchs "Die Amerikaner" ("The Americans").

Kein Interesse an der Landsgemeinde

In Arles nun ist der Robert Frank vor "Die Amerikaner" zu entdecken. Etwa seine Reportage von einer Landsgemeinde in Hundwil (Kanton Appenzell Ausserrhoden). Die Bilder wurden nie verkauft, trotz aller Anstrengungen seiner Agentur Magnum.

Der Sohn eines deutschen Juden und einer Schweizerin, "der Jahre brauchte, um die Schweizer Staatsbürgerschaft zu bekommen", wie Ausstellungskurator Martin Gasser sagt, wanderte Ende der 1940er-Jahre in die USA aus. Dort traf er die grossen zeitgenössischen US-Fotografen Walker Evans und Edward Steichen.

83 Bilder aus 28'000

Mit einem Guggenheim-Stipendium in der Tasche bereiste Frank die USA, schoss 28'000 Bilder, entwickelte 1000 davon und wählte schliesslich 83 aus. Mit diesen publizierte er zuerst in Frankreich bei Robert Delpire das Buch "Die Amerikaner".

"Viele Amerikaner werden schockiert gewesen sein vom Spiegel, den Frank ihnen vorgehalten hatte", sagt Gasser. "Sie wollten sich darin nicht erkennen und auch den Rassismus und die Konsumhaltung der US-Gesellschaft nicht sehen."

Heute verkauft sich einer seiner Abzüge für mehr als 600'000 Dollar. Gasser hat beim 93-jährigen Frank, der immer noch in New York und in seinem einfachen Häuschen im kanadischen Neuschottland lebt, rund 20 Fotografien gefunden, auf die der Fotograf damals aus Platzgründen verzichtete und die nun in Arles zu sehen sind.

Einflussreiche Chemie-Erben

Die Schweiz ist in Arles, das etwas grösser als die Schweizer Stadt Zug ist, aber nicht nur an der Fotomesse stark präsent. Wer die Stadt verlässt, sieht vom Bahnhof aus ein etwas überproportioniertes Gebäude im Bau.

Es ist das zukünftige internationale Kultur- und Forschungszentrum, das der renommierte US-Architekt Frank Gehry auf dem Gelände der ehemaligen Werkstätten der SNCF für die Fondation Luma realisiert. Hinter dieser weit vernetzten Stiftung steht die Basler Pharma-Erbin Maja Hoffmann (Roche).

Ihr Vater Luc Hoffmann war in den 1950er-Jahren nach Arles gezogen. Seitdem gehören Maja, ihre Schwester Vera Michalski und ihr Bruder André zu den grossen Mäzenen mehrerer Institutionen aus den Bereichen Kultur und Wissenschaft in der Region. Darunter sind die Fondation Van Gogh, geleitet von der Zürcherin Bice Curiger, die Fondation Luma, die Biologische Station Camargue sowie weitere Häuser.

Vernetzt bis in die hohe Politik

Maja Hoffmanns Einfluss in Arles reicht weit über die ehemaligen SNCF-Werkstätten hinaus. So trat der ehemalige Direktor der "Rencontres de la Photographie", François Hébel, 2014 zurück, weil er mit den Projekten der Fondation Luma nicht einverstanden war. Der jetzige Direktor Sam Stourdzé versteht sich besser mit Hoffmann – vielleicht, weil er die Schweiz gut kennt: Er leitete zuvor das Lausanner Musée de l’Elysée.

Maja Hoffmann betätigt sich gelegentlich auch als Vermittlerin für die Eidgenossenschaft. So wollte Bundespräsident Alain Berset seit langer Zeit die französische Kulturministerin Françoise Nyssen treffen. Hoffmann vermittelte, und das Treffen fand statt – in ihrem Privathaus.


(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)  © swissinfo.ch

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