Die Schweizerin Barbara Kindermann hat in Berlin einen erfolgreichen Verlag für Kinderliteratur aufgebaut. Ihre Bücher zeigen, dass die Geschichten von Faust und Wilhelm Tell auch junge Leser begeistern können.
Ohne die damals sechsjährige Anna würde es den Kindermann Verlag vermutlich nicht geben. Das Mädchen lauschte aufmerksam einer Kinderversion von Shakespeares Sturm und erinnerte sich Tage später noch detailliert an den Inhalt. "Das könnte ich auch mit anderen Klassikern versuchen", dachte sich ihre Mutter, die promovierte Germanistin Barbara Kindermann. 1994 brachte sie als erstes Goethes Faust in einer stark vereinfachten und illustrierten Fassung heraus, der Verlag war geboren.
Bis heute ist Faust ein Dauerbrenner im Programm des Kindermann Verlags. Der Erfolg zeigt, dass die Verlegerin das richtige Gespür hatte: Fausts Kampf mit dem Bösen und sich selbst, Wilhelm Tells berühmter Schuss auf den Apfel oder auch das Liebesdrama um Romeo und Julia sprechen auch kleine Leser an. Vorausgesetzt, man eröffnet ihnen sprachlich den Zugang zu den Geschichten. Die Autoren des Kindermann Verlags, allen voran Barbara Kindermann, haben sich darauf spezialisiert, Weltliteratur von Goethe bis Shakespeare in einfachste Worte zu fassen. In Zusammenarbeit mit renommierten Illustratoren werden dann aus Klassikern attraktive Bilderbücher.
Als sie ihren Verlag 1994 gründete, lebte Barbara Kindermann bereits in Deutschland, der Liebe und der Gebrüder Grimm wegen. Nach dem Studium in Genf, Florenz und Dublin war sie ihrem späteren Mann nach Göttingen gefolgt. Dort promovierte sie über die Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm und gab anschliessend den dritten Band derer deutschen Sagen heraus. "Ich wusste damals alles über Märchen", sagt die Germanistin mit einem Lachen. Doch dieses Wissen entsprach nicht der landläufigen Meinung über die verehrten Grimms.
Grimm-Mythos widerlegt
Kindermanns Forschung trug dazu bei, den Mythos um die Brüder zu widerlegen, die vorgaben, authentische Sagen zu sammeln und zu veröffentlichen. Die beiden hatten sich vielmehr ihr Material sehr gezielt aus den verschiedensten Quellen zusammengesucht. Dann wurde es kopiert, gekürzt, entschärft, umgeschrieben und in Form gebracht, bis es ihren Vorstellungen entsprach. Die Grimms zog es später von Göttingen nach Berlin, so wie Barbara Kindermann auch. Sie liegen gleich um die Ecke von Kindermanns Verlagsbüros, auf dem idyllischen Mätthaus-Kirchhof in Berlin Schöneberg, begraben.
Der Kindermann-Verlag hat sich in seiner Nische einen Namen gemacht. "Aber ich habe einen langen Atem gebraucht", bekennt die 62-Jährige. Die ersten acht Jahre waren hart. 2002 entschied sich Barbara Kindermann, geborene Bieri, dann für einen Neustart. Sie holte bekannte Illustratoren und neue Autoren mit ins Boot und gestaltete ihre Titel komplett neu. Hochwertigeres Papier, ansprechendere Cover, ein professioneller Vertrieb und Pressearbeit. "Das hat definitiv die Wende gebracht", ist sie überzeugt. Seither schreibt sie schwarze Zahlen und finanziert neben ihrem eigenen zwei weitere Gehälter. Vor kurzem hat sie Lizenzen nach China und Russland verkauft. Dort sind die deutschen Klassiker sehr beliebt. Auch in Südkorea sind Übersetzungen des Kindermann-Sortiments auf dem Markt.
iPad ist keine Konkurrenz
Wie aber wirkt sich die computerversessene Kindergeneration auf das Geschäft aus? "Ich merke die Konkurrenz der digitalen Medien überhaupt nicht", sagt Barbara Kindermann überraschenderweise. Kein iPad und keine Märchen-App scheint die gemeinsamen Lesestunden von Eltern und Kindern auf dem Sofa oder am Bett ersetzen zu können. Kindermanns klassisches Verlagsprogramm macht es zugleich auch inhaltlich zeitlos, sie muss nicht jedes Jahr neue Titel auf den Markt werfen. Erwachsene greifen bei der Buchauswahl für ihre Kinder zudem gerne zu Geschichten, die sie selber aus ihrer Kindheit kennen. "Das Déjà-vu ist wichtig", bekräftigt die Verlegerin. Ihr Programm ist damit quasi ein Selbstläufer.
Auf dem deutschen Markt besetzt der Kindermann-Verlag erfolgreich eine Nische. In der Schweiz, so räumt Barbara Kindermann ein, gebe es noch Luft nach oben. Dabei hat sie auch eine Kinderversion von Schillers Wilhelm Tell im Programm. Regelmässig liest die Verlegerin daraus deutschen Schülern vor und fordert sie anschliessend auf, es dem Schweizer Helden gleichzutun: Wer mit dem Saugnapf-Pfeil den Apfel auf dem mitgebrachten Tell-Poster trifft, wird zum Meisterschützen ernannt. "Auf einer Buchmesse kam einmal ein erwachsener Mann auf mich zu und stellte sich als ehemaliger Meisterschütze vor", erzählt Barbara Kindermann lachend. Der ehemalige Schüler hatte ihren Verlag erkannt. So stellt Barbara Kindermann sicher, dass die Sage um den Schweizer Nationalhelden auch deutschen Kindern ein Begriff ist.
Die Nachfolge ist gesichert
Sie tut es gern. "Ich bin Patriotin", sagt sie. Mutter und Tochter sind in Berlin verwurzelt. Doch emotional pflegen beide eine enge Bande in die Schweiz. Zuhause sprechen die beiden schweizerdeutsch, "wir fiebern bei den olympischen Spielen natürlich für die Eidgenossen mit". Die NZZ liegt täglich auf dem Küchentisch und mehrmals im Jahr fahren sie in das Ferienhaus der Familie in Flims. "Der Flimser Stein ist der Fels meines Lebens", sagt Barbara Kindermann, ohne den geht es nicht. Diese Heimatverbundenheit hat sich auch auf die Tochter übertragen. "Ich fühle mich fast mehr als Schweizerin denn als Deutsche", sagt Anna Kindermann, obwohl sie immer nur Urlaube dort verbracht hat.
Die 30-Jährige stieg vor drei Jahren nach einem Studium des Kommunikations- und Medienmanagements und Jahren im Ausland in den Verlag der Mutter ein. Barbara Kindermann war damals überrascht und hocherfreut. "Wir hatten nie darüber gesprochen, weil ich nicht dachte, dass das für sie in Frage käme." Jetzt ist die Zukunft des Verlags gesichert. Barbara Kindermann zieht sich mehr und mehr aus dem Alltagsgeschäft zurück. Ihre Tochter führt das Konzept in das digitale Zeitalter. Kindermanns Reihen wird es bald zusätzlich auch als animierte E-Books und Spiele geben. Das klassische Buch aber bleibt der Pfeiler des Geschäfts. Die Verlegerin kann also entspannt in die Zukunft blicken. Die grossen Geschichten der Weltliteratur werden immer aktuell bleiben, ist Barbara Kindermann überzeugt.
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