• Sie wird kontrovers und emotional geführt: die Genderdebatte.
  • Immer wieder melden sich in diesem Zusammenhang auch Prominente zu Wort und kritisieren gendergerechte Sprache.
  • Im Interview erklärt ein Sprachforscher, warum das Gendern die Gemüter so erhitzt.
Ein Interview

Herr Lobin, wenn es um das kleine Sternchen geht, fallen häufig grosse Worte und was losbricht, ist eine Debatte, die in der Regel sehr emotional geführt wird. Können Sie kurz einordnen, was diese Kontroverse so kompliziert macht?

Henning Lobin: Die Debatte um die geschlechtergerechte Sprache ist so kompliziert und unübersichtlich, weil es hierbei eigentlich um mehrere Themen geht. Zum einen geht es um die sprachliche Kennzeichnung von Männern und Frauen, was ein bereits älteres Thema ist und wozu es aus der feministischen Linguistik schon vor längerer Zeit Vorschläge gegeben hat, die in unseren heutigen Sprachgebrauch eingesickert sind.

In neuerer Zeit ist das Thema "Gender" hinzugekommen. Damit ist vor allem gemeint, nicht-binäre Identitäten sprachlich zu kennzeichnen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, etwa, indem man versucht, Formulierungen zu finden, die keine geschlechtlichen Kennzeichnungen aufweisen, wie beispielsweise die Bezeichnung "die Lehrerschaft" oder "die Radfahrenden".

Mit dem Genderstern haben wir in der geschriebenen Sprache aber auch eine Kennzeichnung, die sehr auffällig ist und die Gemüter erregt, weil sie an keine ältere Tradition anknüpft. Sie sticht damit sehr stark ins Auge und macht die Thematik und die damit einhergehende Debatte sofort erkennbar, auch in ihrer mündlichen Umsetzung.

Immer wieder melden sich in diesem Zusammenhang auch Prominente wie etwa Dieter Hallervorden oder Jürgen von der Lippe zu Wort und äussern sich sehr ablehnend gegenüber dem Gendern beziehungsweise genderneutraler Sprache. Ist das immer wieder neu aufflammende Feuer rund ums Gendern konstruktiv oder eher kontraproduktiv?

Ich glaube, dass die Debatte und die Art und Weise, wie sie immer wieder angefacht wird, mittlerweile ziemlich verfahren ist. Meiner Meinung nach wird sie nicht sehr konstruktiv geführt. Sie verlagert sich nach und nach auf immer neue Teilaspekte dieser Thematik.

So ist es in der letzten Zeit häufiger um die rechtlichen Grundlagen gegangen, auf denen man das Gendern legitimieren oder ablehnen kann. Die Debatte selbst wird dabei aber oft stark vereinfachend geführt und ganz unterschiedliche Aspekte davon werden in einen Topf geworfen.

Auf der anderen Seite ist es aber so, dass es in der Diskussion zugleich auch um eine Sicht auf die Gesellschaft geht – ich glaube, dass es sich hierbei um den eigentlichen Punkt handelt, warum diese Diskussion sehr aufgeheizt geführt wird. Es geht gar nicht immer nur um die sprachliche Seite, es geht eigentlich auch um konkurrierende Gesellschaftsvorstellungen. Und um Vorbehalte gegenüber einer besonders deutlichen sprachlichen Kennzeichnung verschiedener Identitäten.

Häufig fällt innerhalb der Gender-Debatte auch eine extreme Wortwahl auf. Es fallen Begriffe wie "Genderkrieg", "Genderwahn" oder sogar "Vergewaltigung der Sprache". Menschen bedienen sich hier der Macht der Sprache – warum greifen sie zu diesen krassen Metaphern? Warum reicht es nicht zu sagen "Ich bin gegen das Gendern"?

In der Art und Weise, wie diese Debatte geführt wird, erfährt diese ablehnende Sicht ganz besonders viel Nachdruck und Aufmerksamkeit. Ich denke, dass der "Verein Deutsche Sprache", der sich immer wieder gegen das Gendern im Deutschen ausspricht, hier ein Vokabular etabliert hat, das sich mit Wendungen wie "Verhunzung" oder "Entstellung von Sprache" immer mehr verbreitet hat und gewissermassen reflexhaft bei manchen Menschen abrufbar ist.

Sprache und Gesellschaft gehen in Sachen Gender-Debatte Hand in Hand. Wenn Kinder durch geschlechtergerechte Sprache etwa lernen, dass es nicht nur Polizisten, sondern auch Polizistinnen gibt, interessierten sich mehr Mädchen für männlich typisierte Berufe wie bei der Polizei und trauten Frauen in diesen Berufen mehr Erfolg zu. Kann sich Sprache also langfristig auf die Gesellschaft auswirken?

Eine langfristige Auswirkung gibt es sicherlich auch, aber zunächst einmal spiegelt Sprache frühere gesellschaftliche Verhältnisse wider, denn in der Sprache werden ältere gesellschaftlich Zustände konserviert. Das war schon immer so, besonders, wenn es darum ging, die Rolle von Männern oder Frauen zum Ausdruck zu bringen. Das macht Sprache aus. Über die Frage, inwiefern sprachliches Handeln die Welt ändert, wird ja bereits seit geraumer Zeit gestritten. Was hingegen als weitgehend erwiesen gilt, ist, dass Sprache Wahrnehmungen und Verhaltensweisen beeinflussen kann.

Bleiben wir bei der gesellschaftlichen Komponente: Gewissermassen kann man von zwei Lagen sprechen: dem Genderstern-Lager und dem Lager rund um das generische Maskulinum. Wie kann es Ihrer Einschätzung nach zu sachlichen Diskussionen kommen?

Ich glaube, man könnte sich zunächst einmal vergegenwärtigen, dass es nicht nur diese beiden Pole gibt, sondern auch ganz viele Zwischenstufen. Blicken wir beispielsweise auf die Medien, die selbstgesetzten Richtlinien für ihre Texte folgen, wenn es um die sprachliche Kennzeichnung von Menschen geht. In den meisten Fällen merkt man das gar nicht – sofern kein Genderstern verwendet wird. Das Ganze ist also deutlich vielgestaltiger, als es häufig dargestellt wird.

Deshalb sollte man sich diese Vielfalt einmal vergegenwärtigen und es beispielsweise nicht verteufeln, wenn sich jemand dazu entschliesst, den Genderstern zu verwenden. Vielmehr sollte man es jedem Menschen zugestehen, die eigene sprachliche Ausdrucksweise zu verwenden, ohne dies zu sehr aufzuladen. Zudem sollten wir uns alle bewusst machen, mit welchen Metaphern wir den Sprachgebrauch anderer beschreiben. Hier könnte man sich dann überlegen, ob man im eigenen Sprachgebrauch nicht etwas abrüstet, anstatt hier aggressive oder diffamierende Formulierungen zu verwenden.

Jeder Mensch soll frei entscheiden, ob und in welcher Form gegendert wird. Wenn Menschen also aufs Gendern mit "Da mache ich nicht mit, ist mir zu blöd" reagieren, ist das ihre persönliche Entscheidung. Und dennoch ist im Rahmen dieser Debatte häufig deutlicher Zorn zu spüren …

Das hat natürlich damit zu tun, dass diese Debatte so aufgeladen ist. Solange diese Situation in diesem Ausmass besteht, werden wir nicht zu einer gelasseneren Diskussion rund um diese Themen kommen. Eines steht dabei definitiv fest: Wir haben in Deutschland keine Gesetzgebung, die in die eine oder andere Richtung Vorgaben machen kann. Um es ganz platt zu sagen: Wir haben keine Sprachpolizei – weder eine, die das Gendern einfordern, noch eine, die es verbieten kann.

Zwar gibt es in manchen institutionellen Bereichen gewisse Vorgaben, aber auch hier ist sehr schnell eine Grenze erreicht. Insofern ist eigentlich nur zu hoffen, dass wir in den nächsten Jahren mit einer grösseren Gelassenheit aus dieser Debatte hervorgehen, was die unterschiedlichen Arten, Personen sprachlich zu kennzeichnen, betrifft.

Über den Experten: Prof. Dr. Henning Lobin ist ein deutscher Germanist und Linguist. Er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim.

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