Seit seinem Ausscheiden aus der Schweizer Regierung hat der ehemalige Aussenminister drei Bücher geschrieben; das letzte – "Mer porteuse" – befasst sich mit Migration. Ohne die Entscheide der Eidgenossenschaft direkt zu kommentieren, bekräftigt Didier Burkhalter ein humanistisches Credo, das seit seinem Abgang in Bern weniger hörbar ist.

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Drei Romane in einem Jahr. Seit er im Oktober 2017 aus dem Bundesrat ausschied, äusserte sich der Neuenburger kaum öffentlich. Dafür machte er seinem Herzen durch Bücher mit lyrischen Titeln Luft: "Enfance de terre" (Titel der deutschen Übersetzung: "Kinder der Erde: Geschichten aus aller Welt"), "Là où lac et montagne se parlent" ("Wo sich Berg und See begegnen") und das jüngst publizierte "Mer porteuse", das bisher nur in Französisch erschien.

Weil er sich zurzeit gesundheitlich erholt, konnte Didier Burkhalter uns nicht persönlich empfangen. Das folgende Interview wurde daher durch den Austausch von E-Mails geführt.

swissinfo.ch: Geht die Entscheidung, historische Romane zu schreiben auf Ihre Erfahrungen als Bundesrat zurück? Wollen Sie eine Lücke schliessen, die Sie als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten empfunden haben?

Didier Burkhalter: Ich habe das politische Engagement während mehr als drei Jahrzehnten sehr gemocht, vor allem die Regierungstätigkeit im Dienst lokaler, nationaler und auch internationaler Bevölkerungen, etwa durch den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Doch dann spürte ich im Frühling letzten Jahres einen dieser plötzlich auftauchenden, überwältigenden Wünsche: Ich wollte ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen. Ich fühlte, dass ich vermehrt persönlich geprägte Seiten schreiben wollte. Und das ist nun geschehen, sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn.

Mein drittes Buch "Mer porteuse" ist in der Tat Teil einer Entwicklung hin zum historischen Roman. Ich fühle mich von Geschichte angezogen und bin fasziniert von der Möglichkeit, Figuren zu erfinden, die im Tanz der Zeit und in Ereignissen stecken, die tatsächlich stattgefunden haben.

swissinfo.ch: Wie kommen Sie zum Stoff für ihre Bücher? Durch Recherchen, durch Erinnerungen?

D.B.: Beides spielt eine Rolle. Die Ausrichtung der Recherchen fusst auch auf Erinnerungen. In "Kinder der Erde: Geschichten aus aller Welt" stecken viele emotionale Erinnerungen: Aussergewöhnliche Begegnungen mit Menschen, die mich in meinem Leben als Aussenminister am meisten geprägt haben, wie der kleine Junge Ahmed in einem Flüchtlingslager in Azraq in Jordanien, oder das junge syrische Mädchen Imane, das Fotografin werden wollte, um Elend und Krieg zu entkommen und diese zugleich anprangern zu können. Oder Angelica, eine etwa 20 Jahre alte Mutter, die zu Fuss ihr von Elend geprägtes Land Kolumbien durchquerte.

Danach entschied ich mich, Themen, die mir am Herzen liegen, im Rahmen eines historischen Romans aufzugreifen. Dazu gehören zum Beispiel die Absurdität des Kriegs, Todesstrafe, Migration, Gerechtigkeit, Ehre, Adoption und Geheimnisse um die Herkunft. Es schien mir sinnvoll, dazu einen zeitlichen Abstand einzunehmen und das tragische Leben meiner Figuren im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusiedeln.

Das bedeutet auch mehr Recherchen, die übrigens faszinierend sind. Ich habe zudem einen neuen Roman in Angriff genommen, der vielleicht eines Tages die Fortsetzung von "Mer porteuse" werden könnte und sich vor allem auf den Zeitraum nach den 1920er-Jahren konzentrieren und einen anderen Teil des 20. Jahrhunderts abdecken könnte, vielleicht mit der Idee, zu beschreiben, wie menschliches Verhalten zu einem Ferment für den Anstieg der globalen Krise werden kann. Das wird sich zeigen: Dieses Mal nehme ich mir mehr Zeit, auch aus gesundheitlichen Gründen.

swissinfo.ch: In ihrem letzten Buch – "Mer porteuse" – geht es um das Schicksal europäischer Migranten, die nach Amerika aufbrachen. War diese Wahl durch die schmerzliche Aktualität des Themas motiviert?

D.B.: Ja. Ich denke in der Tat, dass es gut ist, den Weg zu betrachten, den die Generationen vor uns beschritten haben, auch hier wieder buchstäblich und im übertragenen Sinn. Es ermöglicht uns, unsere Ängste zu relativieren, indem wir sie in den Lauf den Zeit einreihen, und uns besser von den vielen mutigen Handlungen inspirieren zu lassen, welche die Herzen von so vielen Menschen erfüllt hatten, die beschlossen, um ihr Schicksal zu würfeln und in See zu stechen. Die Welt entwickelt sich ständig aufgrund von menschlichen Abenteuern.

swissinfo.ch: In dieser wie auch in anderen Fragen (wie Waffenexporte) vertritt die Schweiz ein engeres Verständnis ihrer Interessen als in der Vergangenheit. Ein Beweis für Realismus in schwierigeren Zeiten, was die Machtverhältnisse zwischen Grossmächten angeht?

D.B.: Auch wenn meine Auffassung unserer Institutionen und meine Rolle als ehemaliger Bundesrat bedeuten, dass ich mich nicht zu den Entscheiden der Regierung äussere, finde ich es wichtig, vor allem durch die Literatur, die auf Schlüsselelementen fusst, Position zu den kulturellen Grundlagen unseres Landes zu beziehen.

Die politische Kultur der Schweiz basiert auf Dialog und darauf, dass alle Standpunkte angehört werden. Denken wir an die Konsultationsperiode (Vernehmlassung) bei Gesetzesvorlagen oder an Debatten im Parlament oder in der Bevölkerung.

Auch die Kultur unseres Landes gegenüber dem Ausland fusst auf diesen Werten. Das macht unsere Stärke aus, und unsere anerkannte Unparteilichkeit, und ermöglicht uns, auf globaler Ebene bei Mediationen und anderen Engagements im Rahmen unserer guten Dienste eine Rolle von erheblicher Bedeutung zu spielen; kurz gesagt: für den Frieden.

swissinfo.ch: Was steckt Ihrer Meinung nach hinter der besonderen Stimme, welche die Schweiz heute in der internationalen Gemeinschaft hat?

D.B.: Genau das. Eines Tages, während einer Reise 2014, nahm mich der Präsident eines weit entfernten Landes für einen Moment zur Seite. Er wollte mir etwas sagen, das vom vereinbarten diplomatischen Schema abwich: "Sie haben in der Schweiz etwas Magisches, Sie wissen, wie man Frieden bewahrt", sagte er zu mir.

Er legte den Akzent nicht darauf, dass wir in Frieden leben, sondern auf die Tatsache, dass wir, in gewisser Weise, Schlüssel zum Befrieden haben, nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland. Ehrlich gesagt, ich denke, dies ist eine enorme und wunderbare Verantwortung, und ich denke, man muss alles tun, um diese noch für lange Zeit bewahren zu können und sich ihrer würdig zu zeigen.

swissinfo.ch: Die Neutralität und die Unabhängigkeit von der Europäischen Union verhalfen der Schweiz seit 1848 zu ihrem Wohlstand. Eine Zeitspanne, in der Europa und die westlichen Länder im Mittelpunkt der Welt standen. Verändert die relative Marginalisierung Europas nicht grundlegend die Parameter, die die Beziehungen der Schweiz zum Rest der Welt bestimmen?

D.B.: Europa – und ich meine den ganzen Kontinent – war ein echtes Licht bei der Entwicklung der Welt, vor allem im Bereich der Menschenrechte, Europa war aber auch die schreckliche Wiege grosser globaler Konflikte. Es ist übrigens das grösste Verdienst der Europäischen Union, dass sie versucht hat, die Risiken in diesem Bereich einzudämmen, die Feinde von gestern zusammen zu bringen und zu Verbündeten der Gegenwart zu machen. Hoffentlich bleibt dies (auch für die Schweiz) auch in Zukunft so!

Unser Kontinent ist aber in vielen Bereichen nach wie vor eine der treibenden Kräfte der Welt, etwa bei Bildung und Forschung, aber auch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand. Der Wettbewerb hat sich jedoch verschärft und Risse im europäischen Gebäude sind tiefer geworden. Zudem altern unsere europäischen Gesellschaften und haben die Tendenz, wieder, wie schon vor früheren Krisen, auf Ängste zu hören, die zur Ablehnung des Anderen sowie zu Abschottung und Rückzug auf sich selbst führen.

In einer globalisierten Welt, die zunehmend multipolar geworden ist, ist die vielversprechendste Antwort meiner Ansicht nach, die Werte, die diesen Kontinent gross gemacht haben, mit Vertrauen zu bekräftigen. So müssen die Menschenrechte zum Beispiel wirklich universell sein, und der Handelsverkehr muss sich nach internationalen Regeln entwickeln können, die auf dem Respekt für alle Partner fussen, um möglichst vielen Menschen echte Perspektiven zu geben.

Was die Schweiz angeht, ihre spezifische Rolle als unparteiisches, aber für Frieden engagiertes Land, als Nation mit einer tief verwurzelten Demokratie, die gleichzeitig weitgehend offen ist für die Globalisierung, wird noch wichtiger werden in einer Zeit, in der Spannungen, seien sie global oder regional, allzu leicht zunehmen. Ich bin überzeugt, dass es diese Schweiz ist, von der man am meisten erwartet, sowohl im Inland als auch im Ausland. (Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)  © swissinfo.ch

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