Ende Juli wurde das Brettspiel "Sky Team" als "Spiel des Jahres" ausgezeichnet. Der Preis wird seit 1979 verliehen und brachte Gewinner wie "Die Siedler von Catan" hervor. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Spielekritiker und Jurymitglied Harald Schrapers über die Bedeutung von Gesellschaftsspielen in Deutschland, den Boom während der Pandemie und gesellschaftspolitische Themen, die immer häufiger Einzug halten in die Spieleschachtel.

Ein Interview

Herr Schrapers, Sie sind Teil der Jury, die jedes Jahr das "Spiel des Jahres" und das "Kennerspiel des Jahres" kürt. An welche Zielgruppen richten sich Spiele, die mit diesen Preisen ausgezeichnet werden?

Mehr News zum Thema Kultur

Harald Schrapers: Das "Spiel des Jahres" richtet sich an jeden, da gibt es überhaupt keine Einschränkungen – ganz unabhängig von Vorkenntnissen oder Spielerfahrung. Das "Kennerspiel des Jahres" hingegen spricht Menschen an, die bereits regelmässig das "Spiel des Jahres" spielen und in Spiele einsteigen wollen, die einen etwas grösseren Regelumfang haben.

Was macht ein "Spiel des Jahres" aus? Ist das Material, die Optik oder eine verständliche Anleitung wichtig? Oder ist für Ihre Bewertung vor allem der Spielspass entscheidend?

In erster Linie geht es um den Spielspass. Nur bei wenigen Spielen ist der Begriff 'Spass' irreführend. "e-Mission", das zum diesjährigen "Kennerspiel des Jahres" gekürt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Es bietet nicht unbedingt klassischen Spass, da es die unaufhaltsame Bedrohung durch die Klimakrise auf bedrückende und eindringliche Weise darstellt. Ich würde deshalb von Spielreiz sprechen, der ganz klar im Vordergrund steht. Äusserlichkeiten wie Illustrationen und Grafiken gewinnen an Bedeutung, wenn sie unmittelbar mit dem Spielreiz in Beziehung stehen und das Spielgeschehen unterstützen. Es geht aber nicht darum, dass das Cover schön ist, das kann jeder für sich selbst bewerten. Natürlich ist eine verständliche Anleitung wichtig. Wenn man gar nicht versteht, wie das Spiel funktioniert, wird es schwierig, das Spiel auszuzeichnen.

Wie geht die Jury vor und wie viele Spiele testen Sie?

Harald Schrapers
Harald Schrapers ist Vorsitzender des Vereins "Spiel des Jahres". © Daniel Elke

Die Jury besteht aus zwölf Mitgliedern und wir haben uns dieses Jahr mit rund 350 echten Neuheiten auseinandergesetzt. In unsere Spielegruppen möchten wir möglichst viele unterschiedliche Stimmen einbeziehen. Dabei geht es nicht darum, eine Abstimmung durchzuführen, sondern um das Gesamterlebnis eines Spiels. Darin unterscheidet sich das Spiel von einem Buch. Ein Buch kann ein Kritiker alleine lesen und sich eine Meinung bilden, unabhängig davon, ob es den Nachbarn gefällt oder nicht. Beim Spielen ist das anders: Ein Spiel kann nur dann wirklich gut sein, wenn es auch anderen gefällt, weil ein Brettspiel auch immer Interaktion mit anderen Menschen beinhaltet. Deshalb brauchen wir viele unterschiedliche Gruppen und spielen auch mit Menschen, die nicht unbedingt unseren eigenen Spielegeschmack teilen. Diese Vielfalt ist wichtig, um ein umfassendes Bild zu bekommen.

Kommt es vor, dass Ihnen ein Spiel besonders gut gefällt, Sie aber den Eindruck haben, bei Ihrer Spielegruppe kommt es mit gemischten Gefühlen an?

Das kann schon passieren. Dann suche ich noch zwei bis drei andere Spielegruppen. Wenn es weiterhin nicht gut ankommt, wird es natürlich schwierig, eine positive Kritik über das Spiel zu schreiben. Für eine Entscheidung im Namen der Jury ist es entscheidend, dass das Spiel nicht nur mir persönlich gefällt.

"Warum die Verlage dann so viel mehr produziert haben, entzieht sich meinem ökonomischen Sachverstand."

Harald Schrapers, Spielekritiker

Während der Pandemie lag der Umsatz der Brettspielbranche bei 747 Millionen Euro und erlebte einen regelrechten Boom. Das hatte sicher auch Einfluss auf die Anzahl der Neuheiten in einem Jahrgang.

Nach dem unglaublichen Boom in der Pandemie ist die Branche in eine kleine Delle gefallen und es gab erstmal weniger Spiele, was an den übervollen Lagern und den Lieferschwierigkeiten lag. Ein Teil der Spiele wird in China hergestellt und einiges kam erst nach der Pandemie an und blockierte dann die Fläche. Warum die Verlage dann so viel mehr produziert haben, entzieht sich meinem ökonomischen Sachverstand – das gilt aber auch nicht für jeden Verlag. Dieses Jahr war wahrscheinlich ein Rekordjahr. Wir hatten 22 Prozent mehr Spiele-Neuheiten. Woran das jetzt liegt, weiss ich nicht.

Familienorientiertes Spielen in Deutschland seit Jahrhunderten verankert

Das "Spiel des Jahres" wurde am 21. Juli bereits zum 46. Mal vergeben. Zum ersten Mal wurde 1979 mit "Hase und Igel" ein Spiel ausgezeichnet. Haben sich Brettspiele seitdem verändert?

Es gab eine bedeutende Entwicklung in der Brettspielszene. Mit "Die Siedler von Catan" setzte Klaus Teuber neue Massstäbe und etablierte das Markenzeichen 'German Game' oder 'German Style Game'. Das bedeutete einen grossen Schub in der Spieleentwicklung. Das Spiel ist auch heute noch zeitgemäss, besonders wegen seines innovativen Handelsmechanismus. Vor rund 20 Jahren entstand dann mit "Zug um Zug" im Ausland die Idee: "Wir wollen auch unser 'German Game' produzieren". Wir profitieren seitdem erheblich davon, dass sehr viele Ideen aus dem Ausland zu uns kommen, für die Klaus Teuber den Grundstein gelegt hat und für viel mehr Kreativität weltweit gesorgt hat.

Der andere Punkt ist, dass dadurch auch wesentlich mehr Expertenspiele zu uns kommen. Mit Ausnahme der Niederlande und zum Teil auch Frankreichs, wo wie in den deutschsprachigen Ländern oft generationsübergreifend in der Familie gespielt wird, ist in anderen Ländern zunächst eine eher nerdige Szene entstanden. Deshalb war die Nachfrage nach komplexeren Spielen dort vergleichsweise höher als in Deutschland, wo die Idee des familienorientierten Spielens seit Jahrhunderten verankert ist.

In Essen findet mit der SPIEL jedes Jahr die weltweit grösste Brettspielmesse statt, und auch das "German Game" ist global geschätzt. Wie wichtig ist der "Spiel des Jahres"-Preis international?

Das Logo wird nicht übersetzt, auch im Englischen heisst es "Spiel des Jahres" und "Kennerspiel des Jahres". Ein Drittel der Spiele, auf die das Logo gedruckt wird, generiert Umsatz im nicht-deutschsprachigen Raum. Verkauft werden wahrscheinlich noch mehr, die Spiele können auch produziert werden, ohne dass das Logo auf die Schachtel gedruckt wird. In diesem Fall bekommen wir das nicht mit und können sie nicht zählen. Die Bedeutung und der Bekanntheitsgrad sind in einigen Ländern sehr gross. Das gilt vor allem für die USA, Frankreich und den asiatischen Raum.

Kinderspiele erfordern Beteiligung der Eltern

Neben den bereits angesprochenen Preisen wurde auch das "Kinderspiel des Jahres" ausgezeichnet. Dieses Jahr ging der Preis an "Die magischen Schlüssel". Wird das Kinderspiel von einer anderen Jury bestimmt und sind Kinder und Eltern in den Prozess involviert?

Aktuell sind drei Vereinsmitglieder in der Jury des "Kinderspiels des Jahres". Ergänzt wird diese Jury von Beiräten – in diesem Jahr waren es drei Personen, im nächsten Jahr sind es vier. Die Beiräte sind keine Spielekritiker, sondern Erzieherinnen und Erzieher, und nächstes Jahr wird auch eine Lehrerin dabei sein. Also Leute, die das Spielen in Kita, Schule oder Hort in ihren beruflichen Alltag mit einfliessen lassen können. Dabei profitieren sie nicht nur von der Alltagssituation, sondern auch von ihrem Sachverstand als Pädagoginnen und Pädagogen.

Das heisst, die Kinder sind direkt ins Spielen involviert? Worin besteht die Herausforderung?

Für Kinderspiele ist es schwierig, Personen zu finden. Spiele spielen tun wir alle sehr gerne. Aber man muss diesen Aufwand betreiben, etwas zu tun, was ich nicht nur für mich selbst mache, sondern auch für andere. Die Kinderspieljury kann auch nie miteinander spielen, sie kann nur mit Kindern spielen. Entweder man beobachtet die Kinder nur oder man spielt mit. Eltern muss man immer sagen, dass Brettspiele für Kinder nicht dazu da sind, dass man sie ins Kinderzimmer schiebt und sagt: "Macht mal." Die Spiele setzen auch Beteiligung voraus.

Kooperatives Spielen im Aufwind

"Sky Team" wurde zum diesjährigen "Spiel des Jahres" gekürt. Wo liegt der besondere Reiz des Spiels?

Bei den meisten Spielen sitzen wir uns gegenüber. Bei "Sky Team" hingegen setzen wir uns nebeneinander. Das ist auch symbolisch, denn es ist ein kooperatives Spiel. Wir sind Pilotin und Copilot von einem Flugzeug. Zwischen den Spielern liegt ein Tableau, das das Cockpit darstellt. Wir müssen dann die Klappe halten und uns blind aufeinander verlassen können. Wir würfeln hinter Sichtschirmen und setzen die Würfel dann abwechselnd ein, um die Vorgänge wie Geschwindigkeit, Bremsen oder Funksprüche an den Tower zu simulieren. So entsteht ein unglaubliches Erlebnis: Kooperation, ohne miteinander zu sprechen.

"Wir wissen einfach, dass zu zweit am häufigsten gespielt wird."

Harald Schrapers, Spielekritiker

"Sky Team" ist ein Zwei-Personen-Spiel. Damit lässt sich keine grosse Runde am Spieltisch zusammentrommeln. Engt das den Kreis der Spielerinnen und Spieler nicht zu sehr ein?

Wir wissen einfach, dass zu zweit am häufigsten gespielt wird. Es ist am leichtesten, die Zweierrunde zusammenzustellen, und deswegen sind wir uns sehr sicher, dass dieses Spiel eine grosse Resonanz finden wird. Und für diejenigen, die zu dritt oder zu viert spielen möchten, haben wir auch jedes Jahr eine Nominierungs- und Empfehlungsliste. Da ist für jeden was dabei.

Lesen Sie auch

Im letzten Jahr gewann mit "Dorfromantik" ebenfalls ein kooperatives Spiel den Preis, und auch das diesjährige "Kennerspiel des Jahres" "e-Mission" findet sich in dieser Kategorie. Warum werden kooperative Spiele immer beliebter?

Da das Genre noch nicht so alt ist, ist es beim kooperativen Spiel vielleicht noch ein bisschen einfacher, herausragende Spiele zu entwickeln. Beim nicht-kooperativen Spiel ist die Art und Weise, wie wir miteinander agieren, durch Regeln präzise festgelegt. Aber manchmal ist es auch schön, aus diesem Rahmen auszubrechen, und viele kooperative Spiele setzen in den Regeln nicht fest, wie ich mit meinen Mitspielenden zu kooperieren habe. Da kann jede Person ihren eigenen Stil finden.

Letztes Jahr bei "Dorfromantik" konnte man arbeitsteilig spielen, rundenbasiert, oder man hat sich beraten. Bei "Sky Team" müssen wir im Prinzip die Gedanken des anderen lesen, auch wie das geht, steht nicht in der Spielanleitung. Die typische Antwort, warum man ein kooperatives Spiel wählt, ist, dass man gerne friedlich und nicht so gegeneinander spielen will. Das halte ich für die falsche Antwort, denn auch ein kompetitives Spiel ist sehr friedlich. Wo sonst kann man so friedlich gewinnen oder verlieren?

Einige Spiele versuchen historische Ereignisse abzubilden und Wissen zu vermitteln. Wird es von der Jury honoriert, wenn Spiele weg von Fantasiewelten gehen und konkrete Themen ansprechen?

Das ist das, was wir positiv festgestellt haben. Zumindest würden wir es nicht honorieren, wenn immer mehr Spiele in Fantasiewelten abgleiten. In einer Zeit, in der viele Sachen nicht so einfach zu beantworten sind, hatten wir die Befürchtung, dass Autorinnen, Autoren und Verlage glauben, dann besser auf einen Fantasieplaneten zu gehen. Aber das wäre genau der falsche Weg. Man muss aber dann auch den Widerspruch aushalten. Das heisst, dass man sensibel und reflektiert mit Themen umgehen muss, aber auch aushalten muss, dass am Ende nicht alle mit dem Thema zufrieden sind. Die Jury findet es gut, wenn Autorinnen, Autoren und Verlage den Mut aufbringen, das zu tun.

Gesellschaftspolitische Themen finden Einzug in Brettspiele

"e-Mission" beschäftigt sich mit dem Klimawandel – dem gilt es, in dem Spiel gemeinsam entgegenzuwirken. Werden auch gesellschaftspolitische Themen in Brettspielen wichtiger?

"e-Mission" ist ein gutes Beispiel. Es ist spielerisch unglaublich gut. Wie der Designer Matt Leacock auf der Pressekonferenz erzählt hat, ist es aber gar nicht so kooperativ, wie sich manche erhofft haben, denn jeder Spieler verkörpert einen Staat mit all seinen Egoismen. Am Ende wollen die Spieler ihre Weltmacht gut dastehen haben – da wird nicht jeder Zug ausdiskutiert. Dass das Spiel auch thematisch gut gemacht ist, kommt noch dazu. Aber selbst da gibt es Kritik – und das finde ich sehr gut.

"In dem Spiel wird auch die Atomkraft viel zu positiv dargestellt."

Harald Schrapers, Spielekritiker

Einige sagen, in dem Spiel wird viel zu sehr auf technologische Aspekte gesetzt und es wird so getan, als müsse es gar nicht um die Umstellung des eigenen Lebensstils gehen. In dem Spiel wird auch die Atomkraft viel zu positiv dargestellt, das ist auch meine Überzeugung. In Frankreich würden das aber wahrscheinlich viele anders sehen. Aber insbesondere ist es schade – wenn schon Atomkraft –, dass die gesellschaftlichen Folgen nicht dargestellt werden. Das Spiel ist trotzdem so genial, weil es sich eben nicht nur auf Windräder beschränkt, sondern eben auch globale Fluchtbewegung, Bürgerbeteiligung und gesellschaftlicher Zusammenhalt darin vorkommen.

Haben Sie ein "Spiel des Jahres", das Sie auch heute noch gerne auf den Tisch bringen – trotz der vielen Neuheiten, die es jedes Jahr zu testen gibt?

Sehr selten, nur im Sommerurlaub gibt es die Chance. Ich bin gerade mit dem Fahrrad im Saarland unterwegs und habe im Fundus der Jugendherberge "Einfach genial" gefunden – 20 Jahre und sehr gut gealtert.

Über den Gesprächspartner

  • Harald Schrapers ist deutscher Spielekritiker und Journalist. Er ist Vorsitzender des Vereins "Spiel des Jahres" und Mitglied der Jury.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.