- Von "Winnetou" bis Dreadlocks: Die Diskussionen um kulturelle Aneignung sind aktuell wie nie.
- Während die einen für mehr Sensibilität im Umgang mit Symbolen und Darstellungen fremder Kulturen werben, halten andere die Debatten rund um Indianer und Afro-Frisuren für überzogen.
- Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Lars Distelhorst erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, was genau kulturelle Aneignung ist, was noch alles unter diesen Begriff fällt und warum er es begrüssenswert findet, dass der Ravensburger Verlag die zwei "Winnetou"-Bücher aus dem Programm genommen hat.
Herr Distelhorst, haben Sie als Kind "Cowboy und Indianer" gespielt?
Lars Distelhorst: Natürlich. Ständig haben wir uns auf dem Schulhof gegenseitig beschossen.
Finden Sie das aus heutiger Sicht problematisch?
Damals wusste ich es nicht besser. Es wurde mir so von meiner Umwelt vorgelebt. Als Kind macht man sich keine Gedanken darüber. Wenn ich mir heute überlege, was ich damals gespielt habe, stehen mir die Haare im Nacken hoch. Im Prinzip haben wir Genozid gespielt.
Würden Sie es heute mit Ihren Kindern anders machen?
Hätte meine Tochter das Bedürfnis gehabt, so etwas zu spielen, hätte ich es ihr nicht verboten, aber ich hätte mich mit ihr unterhalten, was es bedeutet.
Aktuell werden zwei Vorfälle heiss diskutiert: Zum einen ein Konzertabbruch von weissen Musikern mit Dreadlocks, zum anderen nimmt der Ravensburger Verlag die umstrittenen "Winnetou"-Titel aus dem Programm. Was sagen Sie zu diesen Vorgängen? Sind das Formen von kultureller Aneignung?
Dass der "Ravensburger"-Verlag diese Bücher aus dem Sortiment nimmt, finde ich begrüssenswert. Der Verlag macht sich die Mühe, noch einmal nachzudenken und zu sortieren. Er trifft eine unpopuläre Entscheidung, bei der er auch bleibt, mit dem Argument, dass die Bücher ein Zerrbild von indigenem Leben in den USA darbieten. Das sollte man Kindern in der Art und Weise nicht mehr unterjubeln. Es handelt sich dabei also absolut um kulturelle Aneignung.
Deshalb fallen die "Winnetou"-Geschichten in den Bereich der kulturellen Aneignung
Was genau ist denn kulturelle Aneignung?
Folgende drei Punkte zeichnen kulturelle Aneignung aus: Erstens besteht ein starkes Machtungleichgewicht zwischen den beiden Kulturen, über die gesprochen wird. Dieses Ungleichgewicht geht auf Kolonialismus, Rassismus, Ausbeutung, Krieg oder ähnliches zurück. Zweitens werden die Inhalte, die angeeignet werden, in diesem Prozess grob verzerrt und kommen am Ende als reine Stereotype heraus oder – noch schlimmer – sie bedeuten überhaupt nichts mehr. Drittens hat ein Grossteil der Menschen der Kultur, die der Aneignung ausgesetzt ist, dazu nein gesagt. Darüber wird aber hinweggegangen, ohne mit den Leuten noch mal zu sprechen. Sind diese drei Aspekte gegeben, sollten wir beginnen, über kulturelle Aneignung zu diskutieren.
Inwiefern fallen die "Winnetou"-Geschichten da rein?
Mit Blick auf die "Winnetou"-Darstellung von Karl May sind wir in diesem Bereich. Geschichte wird durch eine westliche, romantisierende Brille gesehen und im Endeffekt kommt etwas heraus, das mit dem Leben der Menschen damals und auch mit der realen Geschichte nichts mehr zu tun hat. Aber es wird so getan, als würde es Geschichte in irgendeiner Weise beschreiben. Damit ist das eine ideologische Folie, um die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents nett und kuschelig darzustellen.
Spielt es eine Rolle, wenn im Falle von Karl May beziehungsweise "Winnetou" gesagt wird, es handle sich bei den Geschichten um Fiktion und nicht um exakte historische Darstellungen?
Mit diesem Argument macht man es sich in meinen Augen deutlich zu einfach. Jeder Roman ist eine Fiktion, da er soziale Wirklichkeit interpretiert und in ein Kunstwerk verwandelt. Hätte Karl May seine Handlung auf einen anderen Planeten verlegt und sich dann andere Figuren ausgedacht, könnte man vielleicht von Fiktion sprechen. Aber er hat sich ganz im Gegenteil sehr eng an eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Gesellschaft und eine bestimmte Kultur angelehnt und diese dann nach seinen und den Bedürfnissen seiner Leserinnen und Leser uminterpretiert. Das kann man nicht mit dem Verweis auf Fiktion abtun, weil es hier eben eine sehr reale geschichtliche Vorlage gibt.
Es gibt auch zahlreiche Stimmen, die die Entscheidung des Verlags kritisieren. Einer davon ist der Karl-May-Experte Andreas Brenne. Er sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung" unter anderem: "Ich halte es für nicht richtig, ein solches Buch nur aufgrund eines Shitstorms aus dem Verkehr zu ziehen". Können Sie diesem Argument etwas abgewinnen?
Ja und Nein. Wenn die Überzeugung dahin geht, dass der Verlag das Buch nur wegen eines Shitstorms aus dem Programm genommen hat, ist der Einwand berechtigt. Ich halte es aber für eine Verkürzung: Dieses Buch wird auch deshalb aus dem Programm genommen, weil es eine Sicht von Geschichte beinhaltet, die völliger Unsinn ist. Da beugt man sich also vielleicht nicht dem Shitstorm, sondern der Shitstorm hat bewirkt, dass die Verantwortlichen noch mal nachgedacht und erkannt haben, dass das nicht unbedingt die Lektüre ist, die wir unseren Kindern vorsetzen wollen.
Wie kann man als Autor beispielsweise Aspekte oder Symbole einer anderen Kultur übernehmen und weiterentwickeln, ohne kulturelle Aneignung zu betreiben?
Man sollte mit den Leuten, die diese Kultur hervorgebracht haben, sprechen und sie einbeziehen, sich Örtlichkeiten anschauen. Vor allen Dingen sollte man keine rein fiktive Geschichte erzählen, die Bedürfnisse bedient, die eigentlich mit der Sache nichts zu tun haben. Genau das ist aber bei den "Winnetou"-Geschichten der Fall: Es wird das Bedürfnis nach Abenteuer, Männerfreundschaften und Lagerfeuer-Romantik bedient. Das hat aber nichts mit den Bedürfnissen der realen Menschen zu tun, die viel erleiden mussten. Ein gutes Beispiel dafür, wie es auch anders geht, wäre der Roman "Der Nachtwächter" von Louise Erdrich, den man zweifelsfrei auch sehr gut für Kinder adaptieren könnte.
"Oft wird die Diskussion verkürzt und mit Blick auf Modephänomene geführt"
Inwiefern spielt es bei der Bewertung solcher Werke eine Rolle, dass diese eben nicht 2022 entstanden sind, sondern schon vor Jahrzehnten? Also zu einer ganz anderen Zeit?
Natürlich kann ich ein Werk, das vor Jahren geschrieben wurde, nicht an heutigen Standards messen. Unabhängig davon, wie wir Karl May bewerten – der das in seiner damaligen Zeit geschrieben hat –, geht es um die Frage, ob wir etwas, das Dinge in so antiquierter Form beschreibt, unseren Kindern vorlesen wollen. Fiktion spielt in Kindergeschichten eine Rolle, aber hier passiert mehr. Es wird ein Blick auf eine bestimmte geschichtliche Epoche vermittelt. Und so, wie die dargestellt wird, kann ich nur sagen: Wir verarschen unsere Kinder, wenn wir denen sowas zeigen.
Abseits von Literatur oder Mode: Welche anderen Beispiele kultureller Aneignung gibt es?
Oft wird die Diskussion verkürzt und mit Blick auf Modephänomene geführt. Gehen Sie mal durchs Pergamonmuseum oder Ähnliches und stellen sich die Frage, wo das alles herkommt. Das ist genauso kulturelle Aneignung und geht auf Aneignungsprozesse innerhalb des Kolonialismus zurück. Die rechtliche Position ist bis heute, dass damals Kolonialrecht galt und es sich deshalb um legale Erwerbungen handelt. Seit einigen Jahren ist glücklicherweise eine rege Diskussion über die Rückerstattung von Kunstgütern im Gange. Auch bei der Frage "Wer repräsentiert wen" bewegen wir uns im Bereich von kultureller Aneignung, beispielsweise, wenn weisse Islamexpertinnen und -experten erklären, was es mit dem Kopftuch auf sich hat, ohne dass eine Muslima zu Wort kommt.
Entwickelt sich Kunst, Kultur, Mode nicht genau dadurch weiter, dass man Vorhandenes anderer Kulturen übernimmt, weiterentwickelt und daraus Neues schafft?
Absolut. Niemand, der kulturelle Aneignung kritisiert, hätte damit ein Problem. Es gibt einen Unterschied zwischen kulturellem Austausch und Aneignung. Austausch findet auf Augenhöhe statt und beide Parteien haben die gleiche Möglichkeit, mitzuentscheiden. Der Begriff kulturelle Aneignung schärft den Blick für die ungleichen Machtdimensionen. Nigeria versucht etwa seit Jahren, die Benin-Bronzen zurückzubekommen, und erst vor Kurzem hat Deutschland eingelenkt und will die Kunstgegenstände restituieren. Wenn nach einer Rückgabe darüber verhandelt wird, in welcher Form die Kunst ausgestellt werden kann, kommen wir weg von kultureller Aneignung.
Warum ist das Thema so konfliktgeladen und emotional?
Ich denke, das hat etwas mit der Diskussionskultur zu tun, wie sie vor allem in sozialen Netzwerken vorherrscht. Die Diskussion zur kulturellen Aneignung findet zu einem nicht unbeträchtlichen Teil im Netz statt. Im wissenschaftlichen Bereich wurde nicht viel publiziert und im Ton sind diese Werke völlig unaufgeregt. Die Eigendynamik sozialer Netzwerke macht eine Menge aus. Vor einiger Zeit habe ich mit einer Intellektuellen aus Ghana gesprochen und sie sagte zu dem Thema: "Da wird es sehr persönlich. Ihr wart ewig da, habt uns weggenommen, was wir hatten, die Kultur kaputt gemacht, und jetzt wollt ihr auch noch unsere Frisuren und Klamotten? Im Ernst?" Das kann ich gut verstehen.
"Das fällt unter elementare Rücksichtnahme auf andere Menschen"
Es entsteht auch viel Unsicherheit: Was darf man anziehen, was lieber nicht? Welchen Rat haben Sie für verunsicherte Menschen?
Im Zweifel würde ich die drei oben genannten Punkte durchgehen und dann entscheiden, etwas zu tun, zu kaufen oder anzuziehen. Natürlich kann man sich auch trefflich darüber streiten, ob es sich bei bestimmten Dingen um kulturelle Aneignung handelt oder nicht. Bei Dreadlocks sollten mittlerweile alle gemerkt haben, dass das nicht die Frisur ist, die man sich als weisse Person macht und dann darauf hoffen kann, dass Schwarze Menschen das toll finden.
An vielen Beispielen sieht man, wie schwierig das Thema zu fassen ist, wo es anfängt und aufhört, was dazugehört, was nicht: Kann man es mit der Diskussion um kulturelle Aneignung auch übertreiben?
Natürlich. Wenn ich bei jedem Kleidungsstück überlege, ob das kulturelle Aneignung ist, werde ich verrückt. Häufig kommen Fragen auf wie: Was kann man denn heute noch sagen oder anziehen? Und eigentlich ist es ziemlich einfach: Man sollte von ein paar Frisuren die Finger lassen und kritisch nachdenken, bevor man sich Buddha als Klorollenhalter an die Wand schraubt. Ausserdem sollte man keine Kleidung anziehen, die für andere Menschen heilig ist oder eine spirituelle Bedeutung hat. Das war’s, das ist nicht schwer. Niemand würde auf die Idee kommen, sich eine Kippa aufzusetzen, nur weil er es lustig findet, ohne etwas mit dem jüdischen Glauben zu tun zu haben. Das fällt unter elementare Rücksichtnahme auf andere Menschen.
Viele tun das ganze Thema auch komplett ab, sagen, das sei alles übertrieben: Wie finden Sie das?
Das fällt unter die "Weiter so"-Haltung: "Das haben wir immer schon so gemacht, wir mussten uns nie kritisieren lassen und jetzt soll das plötzlich alles schlecht sein". Menschlich gesehen kann ich das verstehen. Mit Blick auf meine Person gesprochen: Ich habe auf dem Schulhof diese Spielchen gespielt und mir nichts Böses dabei gedacht, habe die Karl-May-Bücher und Pippi Langstrumpf gelesen, und heute kommen Menschen und sagen mir, dass alles, was ich in meiner Kindheit gemacht habe, schlecht und rassistisch war. Das ist schmerzhaft. Die jüngere Generation stellt unangenehme Fragen, und darauf zu reagieren, indem man nicht darüber nachdenkt, ist zu einfach. Diese Fragen muss man sich gefallen lassen und das bietet eine Gelegenheit zum Wachstum.
Andere wiederum benutzen und übernehmen Symbole fremder Kulturen, weil sie grosse Anhänger oder Fans sind. Was halten Sie davon?
Es kommt auf die Symbole an. Wenn weisse Menschen bei "Black Lives Matter" mitmarschieren, weil sie die Sache unterstützen, ist das sehr gut.
Und wenn sich weisse Menschen Dreadlocks machen lassen, ist das …
… grenzwertig. Denn häufig liest man, etwa von Afrodeutschen zum Thema Rassismus, das klare Statement: Afro-Frisuren sind politisch. Sie waren Jahrzehnte in den USA verboten und Leute sind dafür diskriminiert worden. Sie haben sich unter Schmerzen die Haare geglättet, bis sich im Zuge der Bürgerbewegung Widerstand gebildet hat. Das hatte also etwas Rebellisches und war ein klares Statement gegen ein politisches System. Was soll das jetzt bedeuten, wenn sich weisse Menschen diese Frisur machen? Die haben diese Form von Unterdrückung nie erlitten und können den Standpunkt nicht beziehen. "Black Pride" ist nichts für Weisse.
Was würden Sie sich wünschen, wie sich diese Debatte rund um kulturelle Aneignung entwickelt?
Ich wünsche mir, dass sie in emotionaler Hinsicht runtergekocht wird. Die Debatte wurzelt in der Rassismus-Theorie und wird in wissenschaftlicher Hinsicht seit 50 Jahren geführt. Sie sollte versachlicht werden und damit stärker aus den sozialen Netzwerken herauskommen. Ausserdem wäre es wichtig, wenn über kulturelle Aneignung nicht nur in Bezug auf Mode und Musik diskutiert würde, sondern auch im Hinblick darauf, wer für wen spricht, was in unseren Museen steht und wer welche Patente hält.
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