"Jetzt schreibt er auch noch", mögen sich viele gedacht haben, als bekannt wurde, dass Weltmeister Christoph Kramer einen Roman verfasst hat. Eine kleingeistige, aber auch irgendwie verständliche Erstreaktion, kennt man Kramer doch vor allem vom Fussball, ob als Spieler oder TV-Experte. Nun ist "Das Leben fing im Sommer an" erschienen, und die Antwort auf "Jetzt schreibt er auch noch" muss lauten: Ja, zum Glück.

Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Bücher von Fussballern haben keinen guten Ruf. Zumeist, weil sie dem Leser das geben, was er nur auf diese Weise bekommen kann: einen Einblick in das Innerste einer Mannschaft, ins Privatleben, bestenfalls eine Abrechnung mit Gegnern, Offiziellen, Betreuern, Trainern, Mannschaftskollegen. Die Leser lechzen nach Pikantem, die Angegriffenen naturgemäss weniger. Jeder mag eben den Verrat, aber niemand den Verräter. Erst recht nicht in einem Mannschaftssport, bei dem Vertrauen, Zusammenhalt und ein gemeinsames Ziel zählen.

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Lothar Matthäus erfuhr das in den 1990ern, als er sein "Tagebuch" veröffentlichte, Toni Schumacher mit seinem Buch "Anpfiff: Enthüllungen über den deutschen Fussball" ein Jahrzehnt zuvor. Schlimmstenfalls beenden solche Bücher Karrieren, meist die eigene, manchmal geben sie ihr nur einen Knick und bestenfalls gibt es lediglich eine Geldstrafe – sofern man einen gewissen fussballerisch unverzichtbaren Stellenwert erreicht hat.

Beim Buch von Christoph Kramer, langjähriger Profi in Düsseldorf, Leverkusen, Bochum und Gladbach und Fussballweltmeister von 2014, wird das anders sein. Aus vielen Gründen. Zum Beispiel, weil Christoph Kramer nicht Toni Schumacher ist und erst recht nicht Lothar Matthäus. Kramer ist keiner, der andere in die Pfanne haut. Er sucht nicht die Öffentlichkeit und nicht die Schlagzeilen des Boulevards.

Es ist aber vor allem deshalb anders, weil Kramers Buch ein Roman ist. Sein erster. Um Fussball geht es in "Das Leben fing im Sommer an" nur am Rande, dann, wenn es für die Geschichte wichtig ist. Und für die Geschichte ist es nur dann wichtig, wenn es um das Einfangen von Atmosphäre, von Gefühlen, Antrieben und Momenten geht. All das wiederum bildet den Kern von Kramers Buch, umso mehr, da es in "Das Leben fing im Sommer an" um genau die Zeit geht, in der all die Gefühle und Momente am intensivsten sind: beim Erwachsenwerden.

Kramers Roman: Nicht erfunden, sondern erlebt

Der Roman spielt im Sommer 2006 im Raum Solingen, dort, wo Kramer geboren und aufgewachsen ist. Es geht um den 15-jährigen Chris, der gerade all die Höhen und Tiefen eines Teenagerlebens durchleidet: die Unsicherheiten, die Ängste, den Wunsch, cool zu sein, dazuzugehören, um den wackeligen Schritt vom Jugendlichen zum Erwachsenen, um den Kampf Mut gegen Angst, vor allem aber: um die erste Liebe. Denn der junge Kramer kann sein Glück gar nicht fassen, als das schönste Mädchen der Schule sich plötzlich für ihn zu interessieren scheint. Das Sommermädchen vor dem Sommermärchen.

Auch wenn die Handlung und die Personen frei erfunden sein sollen, verriet Kramer in einem Interview, dass die Geschichte doch zu 90 Prozent wahr sei, und je mehr man liest, desto weniger hat man Zweifel daran. Vieles deckt sich mit der Realität, der Rest klingt zu authentisch, um ausgedacht zu sein: die Figuren, die Orte, die Dialoge, vor allem aber die Atmosphäre. Die klingt nicht erfunden, sondern erlebt.

Das wiederum liegt vor allem an Kramers Sprache. Seine Sätze sind nicht die eines langjährigen Roman-Autors – wie auch? Seine Sprache ist eine Mischung aus Kramers eigenem Sprachstil, einer impulsiven Formulierkunst und aus einer Erinnerung, wie man wohl damals als 15-Jähriger gesprochen hat. Hinzu kommen immer wieder Gedanken aus der Gegenwart, wie Kramer selbst auf diese Zeit zurückblickt und was sie für die Zukunft, also die jetzige Gegenwart bedeuten.

Freundschaft, ohne sie auszusprechen

Aus all dem wird Kramers ganz eigener Sprachstil, und der ist dann am schlechtesten, wenn er so klingt, als hätte Kramer eine ähnliche Szene selbst einmal in einem Roman gelesen. Zum Beispiel in Kramers glücklichsten Moment, als sein grosser Traum, geküsst zu werden, endlich in Erfüllung geht: "Mein Körper wurde erschüttert von Explosionen. Millionen Raketen, die alle viel zu schnell explodierten. Das beste Gefühl meines Lebens. Kein Spielraum für ein anderes Gefühl ausser – das Beste!"

An solch einer Stelle weiss man nicht, ob es noch die x-te Explosionen-Metapher für den ersten Kuss gebraucht hätte – aber zum Glück sind solche Klischee-Fallen nur ganz, ganz selten. Stattdessen überwiegt die Freude an den Momenten, in denen Kramer die ausgetretenen literarischen Wege verlässt, obwohl er sie ja nie zuvor betreten hatte. Zum Beispiel, als er heimlich eine kuriose Szene zwischen einem LKW-Fahrer und einer Prostituierten erlebt und er diesen Moment gerne mit seinem besten Freund teilen möchte.

"Ich hörte Johnny in meinem Kopf lachen und fühlte ihn irgendwie, als ob er direkt neben mir kauern würde. Und vermisste ihn, obwohl er nur ein paar Meter weiter mit den Ninas sass. Aber ich wollte ihm das nicht erzählen, ich wollte es mit ihm gemeinsam erleben." Da beweist Kramer nicht nur ein gutes Gespür für einen Moment und wie man ihn mit Worten einfängt, sondern auch, wie man Freundschaft beschreibt, ohne das Wort auch nur zu nennen.

In solchen Szenen kommt alles zusammen, was einen Roman lesenswert macht, und zum Glück gibt es viele davon. Das hat einen Grund. Denn jede Kunst, insbesondere das Schreiben, lebt davon, wie gut der Autor, die Künstlerin beobachten kann. Und Christoph Kramer ist ein guter Beobachter. Jemand, der ein Gespür für den richtigen Moment hat und dafür, wann sich dieser Moment ändert.

Coming-of-Age-Roman: Wo soll das hinführen?

Dieses Gespür hatte er auf dem Fussballplatz und er hat es auch am Schreibtisch. Etwa, als der junge Kramer in einem "geliehenen" Auto mit Freund Johnny und den Ninas nachts auf den Parkplatz einer Autoraststätte fährt. "Hier draussen herrschte eine andere Stille, die etwas Bedrückendes hatte", beschreibt er diesen Moment, und man weiss sofort, was er meint. Da zählt nicht die literarische Finesse, mit der Kramer die Atmosphäre einfängt, sondern nur die Atmosphäre selbst.

Genau das ist das grosse Plus an Kramers Coming-of-Age-Roman: die Atmosphäre. Denn hier steht der jugendlichen Unsicherheit und der Herkunft aus behüteten und vor allem liebenden Verhältnissen eine literarische Wildheit gegenüber, die sich mit dem Helden des Romans mitentwickelt und immer grösser wird. So hat man mitunter das Gefühl, dass Kramers Schreiben einem Impuls, vielleicht gespeist aus springenden Erinnerungen, folgt und nicht unbedingt einer wohlüberlegten Storyline.

Das Schlechte daran: Man weiss nie, wo das hinführt. Das Gute daran: Man weiss nie, wo das hinführt. Jede Zeile des Romans ist nicht für dessen Ende geschrieben, sondern für den Moment. Jede Zeile ist der Moment. Wie das eben so ist, wenn man 15 ist. Besser hätte Christoph Kramer dieses Gefühl, seinen Sommer 2006, die Liebe zu seinem Sommermädchen nicht einfangen können.

Kramers Antrieb für dieses Buch, so erzählt er es, sei die Verarbeitung einer sportlich schweren Zeit gewesen. Als er in Gladbach nicht mehr gefragt gewesen sei. Da habe er angefangen, seine schlechten Gefühle in Kreativität umzuwandeln, wie er es immer in schlechten Momenten mache. Wenn bei dieser Art der Krisenbewältigung so ein erstes Buch wie dieses herauskommt, hat man fast schon ein schlechtes Gewissen, ihm alles Gute für die Zukunft zu wünschen.

Über das Buch

  • Christoph Kramer: "Das Leben fing im Sommer an". 13. März 2025, Kiepenheuer & Witsch, 248 Seiten.