Bis vor wenigen Jahren galt das Internet unter den Schweizer Uhrmachern praktisch als Tabu. Heute aber wollen auch die renommiertesten Marken nicht auf den Online-Handel verzichten, um ihr Geschäft anzukurbeln.
In den letzten Monaten ist praktisch kein Tag vergangen, ohne dass ein Uhrenkonzern ein Online-Verkaufs-Inserat aufgeschaltet hat: Ob auf der eigenen Internetseite oder über Internetseiten von Drittanbietern, die Schweizer Uhrmacher haben diesen Vertriebsweg zu einer Priorität gemacht.
Klar, einige wenige Uhrmacher stellen sich dieser Entwicklung weiterhin entgegen. Allgemein lässt sich aber feststellen, dass in einer Zeit, in welcher der elektronische Handel explodiert – insbesondere in den USA und in China –, der Verkauf von Luxusprodukten im Internet nicht mehr als Sakrileg gilt.
Selbst eine Marke wie Roger Dubuis, deren durchschnittlicher Einzelstückpreis zwischen 60'000 und 80'000 Franken liegt, erwägt derzeit die Umsetzung einer Online-Verkaufsstrategie.
Bedacht auf die Exklusivität ihrer Produkte wiesen die Uhrenhersteller bisher gerne darauf hin, dass die Atmosphäre, die Erfahrung und der Service eines offiziellen Geschäfts unerlässlich seien, um das Prestige der Marke zu halten.
Erleben wir also eine kleine Revolution der Art und Weise, wie die Produkte verkauft und vertrieben werden, die als Stolz der Schweizer Exportindustrie gelten? swissinfo.ch hat vier Uhrmacher getroffen, die von diesem Phänomen betroffen sind, das die Branche durcheinander wirbelt: der Sprecher der weltgrössten Uhrengruppe, ein junger Unternehmer, der sich für das Internet entschieden hat, der Leiter eines Uhrengeschäfts und einen Professor für Uhrenmarketing.
Swatch Group relativierte bereits das Aufkommen der sogenannten Smartwatches und spricht nun auch im Zusammenhang mit dem Uhren-Online-Verkauf von einem "Medien-Hype". "Das Thema ist nicht neu", sagt Bastien Buss, Mediensprecher der weltweit grössten Uhrengruppe. "Swatch verfügt seit 2001 über eine eigene Online-Verkauf-Plattform. Wir sind also Pioniere auf diesem Gebiet."
Was der Sprecher nicht sagt: Die Bieler Gruppe gab sich bisher sehr zurückhaltend, online verkauft wurden nur Einstiegs- und Mittelklassemarken und nur in Märkten mit wenigen Vertreibern oder eigenen Geschäften. Heute finden sich die meisten der 18 Marken der Swatch Group online, auch diejenigen, die zu höheren Preissegmenten gehören.
Omega ist die wichtigste Marke der Gruppe mit dem grössten Umsatz von mehr als zwei Milliarden pro Jahr. Mit der Lancierung einer limitierten Auflage des Speedmaster-Modells in sozialen Netzwerken stiess sie im vergangenen Jahr auf riesiges Interesse. Es folgte die Lancierung eines eigenen Online-Shops in den USA. Longines, die am Umsatz gemessen zweitwichtigste Marke der Swatch Group, hat dies in mehreren Ländern, darunter China und die USA, ebenfalls getan. Die Marke mit ihrer geflügelten Sanduhr ist auch mit einer Reihe von Uhren auf dem Online-Handel-Unternehmen Hodinkee präsent, einem Uhrenportal, das heute für den Verkauf von Uhren im Internet auf der anderen Seite des Atlantik unverzichtbar ist.
Zwar schuf die Richemont-Gruppe, zu der insbesondere die Marken Cartier, IWC und Jaeger-LeCoultre gehören, zu Beginn des Jahres die Stelle eines "Chief Technology Officer" innerhalb der Swatch Group. Jede Marke sei aber unabhängig und entscheide selber über ihre eigene E-Handel-Strategie, so Bastien Buss. Unter bestimmten Voraussetzungen können autorisierte Einzelhändler und zugelassene Konzessionäre auch eigene Vertriebswebsites entwickeln.
In der Schweiz trifft dies insbesondere auf den Luzerner Uhrenhändler Bucherer zu, der zurzeit grosse Investitionen tätigt, um das bisher eher vernachlässigte Terrain im Netz zu besetzen.
Nur knapp 100 Meter Luftlinie von der kürzlich eingeweihten Omega-Fabrik entfernt, finden sich die Räumlichkeiten des Bieler Unternehmens Formex. Die ehemalige Werkzeugmaschinenfabrik ist an diesem grauen und eisigen Februarmorgen nicht überfüllt. Drei Personen sind im Innern, darunter CEO Raphaël Granito. Der 30-jährige Unternehmer mit enganliegendem T-Shirt, Vollbart und entspanntem Lächeln grüsst mehrsprachig – ein typischer Start-up-Chef eben.
Auch wenn sein Bekanntheitsgrad nicht über den Kreis der Insider hinausgeht, ist Formex eine bereits etablierte Institution. Die 1998 gegründete Marke ist bei Motorsport- und Extremsportlern bestens bekannt. Die Schweizer Medien interessieren sich für Formex, seit die Firma ihre radikale Neupositionierung in der digitalen Welt angekündigt hat. "Wir sind die erste und bisher einzige Schweizer Uhrenmarke, die sich entschieden hat, unsere Uhren nur im Internet zu verkaufen", erklärt Raphaël Granito.
Als der Absolvent einer internationalen Managementschule 2015 an die Spitze des Unternehmens kam, begriff er schnell, dass es nicht einfach sein würde, die in Schwierigkeiten geratene Marke über das traditionelle Vertriebsnetz neu zu lancieren. "Für eine kleine Marke wie die unsere ist es sehr schwierig, einen Platz bei unabhängigen Einzelhändlern zu finden", sagt er.
Raphaël Granito wandte sich dem Online-Direktvertrieb zu, der seiner Ansicht nach viele Vorteile hat. Dazu gehört auch die Möglichkeit, seine Uhren nur noch halb so teuer anzubieten. Dies sei durch den Wegfall der Zwischenhändler und deren Marge möglich geworden, sagt er.
Ziel der Neupositionierung in einer Preisspanne zwischen 350 und 1500 Franken ist es, ein breiteres Publikum zu erreichen – auch wenn sich Formex primär nach wie vor an Kenner richtet. "Unsere Kunden wollen eine Qualitätsuhr zu einem erschwinglichen Preis kaufen", sagt Raphaël Granito. Es gehe den Käufern nicht darum, mit der Uhr ihren sozialen Status hervorzuheben.
Ein Jahr nach dieser vollständigen Digitalisierung zieht Raphael Granito eine positive erste Bilanz. Der Umsatz stieg um 30% und die Kunden sind mit der neuen Verkaufsplattform des Bieler Unternehmens insgesamt zufrieden.
Die grösste Schwierigkeit bei Direktverkäufen über das Internet besteht darin, dass der Kunde keine klare Vorstellung davon hat, wie die Uhr an seinem Handgelenk aussehen wird. Um diesem Nachteil entgegenzuwirken und zu viele Uhrenrückgaben zu verhindern, haben Raphaël Granito und sein kleines Team eine App entwickelt. Sie ermöglicht es den Kunden, die Uhr virtuell am Handgelenk zu testen.
"Das ist weit mehr als nur ein Marketing-Gag. Mehrere führende Marken sind an unserer App interessiert", sagt der Chef von Formex.
"Man muss mit der Zeit leben", sagt Karl Villiger, Leiter von zwei Uhren- und Schmuckgeschäften in Biel. Karl Villiger steht kurz vor der Übergabe des Unternehmens an seinen Sohn. Er vertritt die Gründerfamilie in der dritten Generation und zeigt sich wenig besorgt ab der neuen Konkurrenz im Internet.
Persönliche Beratung, die Möglichkeit, die Uhr zu sehen und zu berühren, sowie die Garantie einer qualitativ hochwertigen Dienstleistung nach dem Kauf bleiben entscheidend, wenn es darum geht, eine Uhr im Wert von mehreren tausend Franken zu kaufen, zeigt sich Karl Villiger überzeugt. "Das Internet zwingt uns nun zusätzlich dazu, unsere Produkte noch besser zu kennen und den Kundenkontakt zu pflegen", sagt er.
Die meisten Kunden, welche durch die gesicherte Tür in den Laden von Karl Villiger kommen, haben eine klare Vorstellung von der Uhr, die sie kaufen wollen. Laut dem Marktforschungsunternehmen Deloitte nutzen mehr als 80% der Konsumenten in der Schweiz vor, während oder nach dem Besuch eines traditionellen Geschäftes ein digitales Gerät, um sich beispielsweise über ein Produkt oder dessen Verfügbarkeit zu informieren. Eine andere Zahl aus der gleichen Studie beruhigt Karl Villiger mehr: Über 90% der Einzelhandelsverkäufe finden immer noch im Laden statt.
In seinen Augen liegt die Gefahr nicht im virtuellen Ozean des Internets, sondern in den realen Meeren, die von immer mehr Kreuzfahrtschiffen befahren werden. "In den Duty-Free-Shops einiger Reedereien werden Luxusuhren mit Preisnachlässen von 20% bis 40% verkauft", sagt Karl Villiger. Die Käufer würden ermutigt, die Mehrwertsteuer bei ihrer Rückkehr in die Schweiz nicht zu deklarieren. "Da ist es klar, dass sie denken ich sei ein Halsabschneider, wenn sie in meinen Laden kommen", sagt er.
Noch ist es schwierig, das wahre Ausmass der Uhrenverkäufe im Internet zu quantifizieren. "Die Marken sind sehr vorsichtig und kommunizieren diese Zahlen nur selten", sagt François Courvoisier, Dekan des Instituts für Uhrenmarketing der Haute Ecole de l' Arc jurassien (HE-ARC).
Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Bain & Company betrug der Online-Verkauf von Schmuck und Uhren im Jahr 2016 fast 3,4% (1,8 Milliarden Euro). Dieser Anteil könnte jedoch rasch ansteigen und 2020 bereits 5 bis 10% erreichen.
Das Beratungsunternehmen Deloitte seinerseits befragte die Verantwortlichen der Schweizer Uhrenindustrie nach den Vertriebskanälen, die sie in fünf Jahren bevorzugen werden. Das Ergebnis lässt keine Zweifel: Traditionelle Läden werden durch den Aufstieg der Digitaltechnik in Bedrängnis geraten.
Dass der Online-Verkauf von Uhren für die Luxusuhrenindustrie von wachsendem Interesse ist, sagt auch François Courvoisier. "Einige Kunden sind bereit, mehr Risiken einzugehen. Dies ist besonders in China der Fall, wo Sie fast alles auf Ihrem Smartphone bestellen können. Wir werden uns langsam aber sicher an den Kauf von Luxusartikeln im Internet gewöhnen", sagt der Uhrenmarketing-Spezialist.
Die zwei aufeinander folgenden Jahre der Rezession (2015 und 2016) in der Branche führten dazu, dass viele Akteure der Uhrenindustrie nach Alternativen zu ihren traditionellen Vertriebskanälen suchten, um ihre überschüssigen Lagerbestände zu verkaufen. Darauf sind viele Initiativen zurückzuführen, die in jüngster Zeit ergriffen wurden.
Die Grenze zwischen offline und online wird immer durchlässiger werden, wie François Courvoisier glaubt. "Die Marken werden sich anpassen und mehrere Möglichkeiten anbieten müssen, um einen Kauf abzuschliessen", sagt er. Dasselbe gelte für die traditionellen Vertriebshändler, die sich auf diese neue Situation einstellen müssten. "Fast ein Drittel der Shops hat noch nicht einmal eine eigene Website oder E-Mail-Adresse. Sie müssen sich rasch auf den neuesten Stand bringen, wenn sie nicht verschwinden wollen", sagt der Professor.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Und so entzieht sich auch ein Schweizer Uhrmacher dem Trend. Sein Name: Rolex, die bekannteste und meistverkaufte Schweizer Uhrenmarke der Welt. Der Online-Handel ist nicht Teil der aktuellen Strategie von Rolex. Mit Blick auf das Geschäftsmodell handle es sich hier um eine der diskretesten und konservativsten Marken, sagt François Courvoisier. Rolex werde mit diesem Abenteuer als letzte Marke beginnen – "und erst dann, wenn sie überzeugt davon ist, dass sie dadurch ihren Umsatz deutlich steigern kann".
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