Wrestling ist Show, die Kämpfer fügen sich keine Schmerzen zu. Dieses Vorurteil haben viele von der Ring-Sportart. Doch stimmt es überhaupt? Unser Redakteur hat getestet, wie es sich im Ring anfühlt - und musste ordentlich einstecken.
Hessdorf bei Nürnberg. In einem Gewerbepark steht eine Fabrikhalle. An der Seite hängt ein Banner: "The Wright Stuff – Pro Wrestling School". In dieser Halle krabble ich auf allen Vieren in einem Ring. In meinem Kopf dreht sich alles, meine Sicht driftet immer wieder nach rechts ab – egal, wie sehr ich mich konzentriere. Schwindel, leichte Übelkeit. Eine Stimme tönt: "Fixier' einen Punkt, fixier' einen Punkt!" Mein Blick schwenkt zu einer Uhr, die an der Wand hängt. 10.34 Uhr. Vor gerade einmal 20 Minuten habe ich mit dem Wrestling-Training angefangen. Noch habe ich keinen Schlag kassiert, denke aber bereits: "Verdammt, auf was hast du dich jetzt wieder eingelassen?"
Mitte der 90er Jahre boomte Wrestling in Deutschland. Stars wie Bret Hart, Hulk Hogan oder der Undertaker sind vielen heute noch ein Begriff. Auch ich schwamm im Alter von elf, zwölf Jahren auf der Welle der Wrestling-Begeisterung. Auch heute schaue ich es mir noch ab und zu im Fernsehen an, wofür ich oft spöttische Blicke ernte. Wrestling sei doch nur Show, alles ein abgekartetes Spiel. "Glaubst du etwa wirklich, dass das echt ist?", ist einer der Sätze, die ich oft zu hören bekomme. Wrestling ist plötzlich nicht mehr cool.
"Die Medienberichterstattung hat uns ziemlich heruntergemacht", sagt Alex Wright, 38. Er ist der erste und einzige deutsche Wrestler, der sich in den USA – dem Wrestling-Land Nummer eins – etablierte. 1994 heuerte der gebürtige Franke im Alter von 18 Jahren bei der Wrestling-Liga "World Championship Wrestling" (WCW) an. Er gewann drei Titel, den Cruiserweight-, den Television- und den Tag-Team-Titel. Heute führt er zusammen mit seinem Vater, der ebenfalls Wrestler war, die grösste und bekannteste Wrestling-Schule Deutschlands. Für mich die ideale Gelegenheit, den Sport selbst einmal auszuprobieren.
Wo ist gleich nochmal die Tür?
Mir ist ein wenig mulmig zumute. Privat spiele ich Tennis und Volleyball. Berührungen mit dem Gegner kommen bei diesen beiden Sportarten meist nur beim Hände schütteln am Netz vor. Ich bin 30 Jahre alt, 1,82 Meter gross und 83 Kilo schwer. Ich trage meine weissen Volleyballschuhe, eine schwarze kurze Hose und ein blaues Sportfunktions-Shirt. Angsteinflössend sieht anders aus.
Im Ring in der Hallenmitte trainieren zwei 100-Kilo-Hühnen. Adrian Severe heisst einer von ihnen. 1,84 Meter gross, 105 Kilo schwer. Er trägt geschnürte dunkle Wrestling-Stiefel, eine kurze Hose und ein Muskelshirt. Adrian ist der aktuelle World Heavyweight Champion der europäischen Liga "New European Championship Wrestling" (NEW). Wrestling-Trainer Alex hatte die Liga 2009 gegründet. Adrian hebt seinen Gegner hoch und legt ihn scheinbar mühelos auf die Schultern. Im nächsten Moment katapultiert er ihn zu Boden. Der Ring kracht, als der 100-Kilo-Mann auf die Bretter prallt. Er stöhnt auf. Mann, das muss weh tun. Trainer Alex sagt mir, dass ich später mit den beiden trainieren werde. Wunderbar, denke ich mir. Wo war gleich nochmal die Tür?
Bevor ich mit dem Training beginne, testet Alex, ob ich der Belastung stand halten kann. Ich soll mehrere Runden um den Ring laufen. Also jogge ich los. Meine Schuhe quietschen, wenn ich eine Kurve laufe. Ich achte darauf, wie ich atme. Ich hole tief Luft durch die Nase und atme durch den Mund wieder aus. Wie Alex es mir gesagt hat. Brav kreise ich mit meinen Armen – vorwärts, rückwärts und gleichzeitig. Ich jogge rückwärts, sprinte zwei Runden. Alles genau nach Anweisung. Nach zehn Minuten höre ich auf. Alles in Ordnung – bis jetzt.
Dann folgen Kniehebeläufe. Eine Minute lang. Ich laufe auf der Stelle und ziehe meine Knie vor dem Körper hoch. Kann doch nicht so schwer sein. Nach etwa 30 Sekunden straft mich diese Annahme Lügen. Immer mehr Schweisstropfen laufen mir über das Gesicht, die Oberschenkel brennen. Ich kann meinen Puls in den Schläfen spüren. Er pocht rasend schnell. Alex merkt, dass ich mit mir kämpfe: "Komm, 20 Sekunden noch, du schaffst das", feuert er mich an.
Anfänger übergeben sich manchmal
Das schaffe ich auch, doch danach gehorchen mir meine Beine einige Minuten lang nicht mehr. Ich messe meinen Puls. 160. Das Blut in meinem Kopf pumpt noch immer. "160? Das passt, wir können anfangen", sagt Alex und fügt hinzu: "Übrigens, falls du dich später übergeben musst, da hinten durch die Tür ist die Toilette." Das sei schon oft bei Anfängern vorgekommen. Übergeben? Das sagt er mir jetzt, einfach so in einem Nebensatz? Ich bemerke, dass an der Wand ein Sarg steht – für "Casket Matches", eine Match-Art beim Wrestling. Wie passend.
Doch halb so schlimm: "Wenn sich Anfänger übergeben, dann kommt das nur vor, weil sie sich überschätzen und sie uns als Trainer nicht rechtzeitig Bescheid geben", sagt Alex. Ich bin ein wenig beruhigter. Überschätzen werde ich mich sicherlich nicht.
Wie gefährlich der Wrestling-Sport sein kann, hat Alex selbst erfahren. Während seiner Zeit bei der WCW hatte er eine Gehirnerschütterung nach der anderen. Dennoch erholte er sich – wenn überhaupt – nur kurz von seinen Verletzungen. "Du bist schnell ersetzbar. Es ist ein sehr harter Kampf backstage, dass man seine Position in der Firma behält", erklärt Alex. Doch irgendwann spielte sein Körper nicht mehr mit. 1997 bekam er bei einem Kampf einen Kick auf den Hinterkopf und konnte fast nichts mehr sehen. Er hatte eine Blutung im Sehzentrum. "Im Backstage-Bereich war ich dann ganz blind – einen Tag lang", sagt Alex. Den Kampf brach er aber nicht ab.
"Da bist du erst einmal im Arsch"
Ich merke, dass er diese Geschichte schon etliche Male erzählt hat. Die Verletzung hat sein Leben geprägt. Die Ärzte sagten ihm, dass seine Karriere erst einmal beendet sei. Doch das war für Alex nebensächlich: "Zwei Tage vorher hatte ich geheiratet, ein Haus gekauft. Da bist du erst einmal im Arsch", sagt er. Nach der Verletzung lag er einen Monat im Krankenhaus und zu Hause - im Dunkeln. "Danach habe ich erst wieder laufen lernen müssen", sagt er. Nach etwa sechs Monaten begann er dennoch wieder zu wrestlen. Seine Leidenschaft für den Sport war einfach zu gross. Wenn Alex im Ring gestorben wäre, wäre es sein eigener Wille gewesen, sagt er. Dafür musste er extra einen Vertrag unterzeichnen.
Alex' Verletzung macht deutlich: Wrestling ist Hochleistungs-Sport. Klar, die Kämpfe sind abgesprochen, folgen oft sogar einer Choreographie. Doch bei den vielen Würfen, Schlägen und Stürzen besteht grosse Verletzungsgefahr. Die Wrestler lernen deswegen, wie sie die Risiken einer Verletzung vermeiden. Würfe vom obersten Ringseil auf den wenig federnden Ringboden oder Schläge auf die Brust tun dennoch weh. Das war mir schon vor meinem Training bewusst. Gleich werde ich es am eigenen Leib erfahren. "Mit der Zeit gewöhnt man sich aber an die Schmerzen", sagt Alex. Vom obersten Ringseil hat er mich übrigens nicht geworfen. So weit war ich noch lange nicht.
Im Ring warten bereits Alex, der NEW-Champion Adrian Severe und zwei weitere Wrestling-Schüler auf mich. Severe kommt aus Südtirol und trainiert regelmässig in der Wrestling-Schule. Er fährt 900 Kilometer hin und zurück, um bei Alex zu trainieren. Seine Freundin schläft gerade vor der Halle im Auto. 20 Minuten lang zeigen mir die vier Wrestler, wie ich richtig falle und wie ich mich abrolle. Zuerst die Sicherheit, dann die Wrestling-Moves.
Danach geht’s so richtig los: Ich darf mich an den Standard-Moves im Wrestling versuchen: Whip-In, Bodyslam, Elbow Drop etc. Ja, der Elbow Drop. An den werde ich mich noch lange erinnern. Ich lege mich flach auf den Boden, spanne meinen Körper und vor allem meine Brust an. Mein Kinn drücke ich nach vorne. Alex läuft an - mit seiner Grösse von 1,96 Meter und einem Gewicht von 115 Kilo. Er holt mit dem rechten Fuss Schwung und springt ab. Kein schönes Gefühl, so einen Koloss auf sich herab rauschen zu sehen. Alex kracht mit dem rechten Oberarm auf meine Brust, mir bleibt kurz die Luft weg. Ich drehe mich ab, keuche, brauche eine Minute, um mich zu sammeln. Alex lacht: "Das waren doch nur fünf Prozent." Das war Elbow Drop Nummer eins, die anderen drei Männer dürfen auch noch ran.
Wie ein Häschen auf der Brust
Natürlich darf auch ich Elbow Drops austeilen, wobei das Wort "austeilen" übertrieben ist. Genauso gut hätte ein Häschen auf die Oberkörper der vier Wrestler springen können. Alex lobt mich trotzdem. Die Technik würde ich "auf Anhieb umsetzen". Immerhin etwas.
Zum Abschluss lasse ich noch ein paar Chops über mich ergehen. Das sind Schläge mit der Handfläche auf die Brust. Ich hänge in der Ringecke, beisse mir auf die Zähne und spanne meinen ganzen Oberkörper an. Das wird halb so schlimm, denke ich mir und weiss im selben Moment, dass ich mich belüge. Alex baut sich vor mir auf, holt mit seiner rechten Hand aus und trifft meine Brust mit seinen "fünf Prozent". Der Schlag klatscht, das Echo hallt durch die Halle. Die Stelle, auf der Alex mich getroffen hat, brennt und wird rot. Seine Fingerabdrücke sind deutlich zu sehen. NEW-Champion Adrian und die anderen beiden Trainingspartner grinsen. Sie sind gleich als nächste dran. Drei Tage später wird sich meine Brust in einen netten blau-gelben Ton verfärben.
Nach etwa eineinhalb Stunden beende ich das Training und frage Alex, was ausser der Kondition meine grösste Schwäche sei. Er fängt an, laut zu lachen. "Die ist schon so gross, da sehe ich schon gar nix anderes mehr", sagt er. Doch dann wird er wieder ernst. Ich sei sehr talentiert und hätte "grosse Chancen", sollte ich eine Wrestling-Karriere anstreben wollen. "Du hast die Leidenschaft, die Motivation, den Funken im Auge. Das ist etwas Wichtiges", sagt Alex. Ich müsse nur öfter kommen, sagt der Business-Mann Alex mit einem Lächeln.
Am nächsten Morgen plage ich mich aus dem Bett. Hallo Muskelkater! Meine Arme fühlen sich bleischwer an. Meine Gesäss- und Oberschenkelmuskeln spannen. Verdammte Kniehebeläufe. Meine Brust ist knallrot, die Fingerabdrücke sind zu sehen. Dennoch: Ich glaube nicht, dass mich Alex zum letzten Mal im Ring gesehen hat - auch wenn ich wohl kein
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