Seit 18 Jahren sind Bon Iver für ihre traurigen Songs bekannt, die besonders in schlimmen Liebeskummer-Phasen zum Einsatz kommen. Nun hatte Justin Vernon, Kopf der Band, genug vom ewigen Herzschmerz - und bringt erstmals ein Album heraus, das zur Freude einlädt.

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Kann es möglich sein? Während die ganze Welt im Chaos versinkt und gefühlt allen zum Heulen zumute ist, fangen Bon Iver an, das Glück zu entdecken. Sechs Jahre nach seinem letzten "richtigen" Album ist der US-amerikanische Singer/Songwriter Justin Vernon (43) mit einem neuen Longplayer zurück und klingt erstmals nicht mehr durchgehend nach dekonstruiertem Folk, Melancholie, Waldhütte und Taschentüchern.

Obwohl, anfangs schon. Da startet Vernon in gewohnt trauriger Manier mit drei Songs, die man schon von der im letzten Herbst erschienen "Sable"-EP kennt. Dann kommt allerdings der Bruch. In einem vielsagenden Interview mit dem "New Yorker" hatte Vernon vergangenes Jahr beschrieben, wie er bei einem besonders emotionalen Konzert an seine Grenzen gekommen war. "Es waren sechs- oder siebentausend Menschen da und ich wurde von Angst und Traurigkeit überwältigt. Ich bekam einen Anfall und begann zu weinen. [...] Und die Menge tobte, wissen Sie? Ich bin nicht böse auf sie. Ich würde auch jubeln, um sie zu ermutigen. Aber ich dachte: Die wollen das. Es ergibt einen Sinn für sie."

Live-Konzerte wie emotionale Horrorfilme

Vielleicht bedient ein Live-Konzert von Vernon einen ähnlichen psychologischen Effekt wie Horrorfilme: im sicheren Rahmen seine Gefühle ausleben, während auf dem Bildschirm das Blut spritzt. Doch das Blut auf der Bühne war echt. Irgendwann fragte Vernon sich, ob er in der Spirale aus Herzschmerz gefangen war, weil er es wirklich fühlte - oder weil er dafür Auszeichnungen und positives Feedback bekam.

Deshalb nun Kontrastprogramm: In "Sable, Fable", wird sich nach den ersten drei Herzschmerz-Songs verliebt. Endlich geht die Sonne auf, gesellt sich auch mal so etwas wie ein Uplift zu Vernons einsamer Stimme, gibt es Melodien, die nach oben ziehen und nicht nach unten drücken. Da sind plötzlich Songs, die "Everything Is Peaceful Love" heissen und Videos dazu, in denen ausschliesslich glückliche, zufriedene, lächelnde Menschen zu sehen sind. Alles sehr untypisch.

Aber auch wenn die Musik nun einen anderen Unterton hat, ist es unverkennbar weiterhin Bon Iver, die hier musizieren. Vernon singt noch immer Falsett, nutzt noch immer Effekte wie Autotune oder Harmonizer, lässt Beats pluckern und erinnert trotzdem immer wieder an seine Anfänge in der Waldhütte vor 18 Jahren. Trotzdem klingt es jetzt, als wären ein paar Kilos von der Musik genommen, als würde eine Aufbruchsstimmung herrschen, ein "Komm, lass mal rausgehen" und kein Verstecken unter der Bettdecke mehr. Als würde die Sonne die Eisblumen am Fenster schmelzen lassen, in der Vernon damals sein Liebeskummer-Debüt "For Emma, Forever Ago" aufgenommen hat.

Bon Iver - Everything Is Peaceful Love (Official Video)

Bon Iver - Everything Is Peaceful Love (Official Video) © YouTube

Entspannte Nostalgie für den Sonnenaufgang

Die Schwermut ist nicht purer Leichtfüssigkeit gewichen, Vernon wird, auch wenn er mittlerweile Songs mit Kanye West, Taylor Swift und Charli XCX aufgenommen hat, keinen Chart-Hit schreiben, der auf der nächsten WG-Party für Laune sorgt. Vernons Sonnenaufgang ist immer noch vernebelt, nostalgisch, aber eben auch entspannt, ruhig, gefasst. Experimentell klingt das alles immer noch, jetzt aber auch verspielt, stellenweise groovig und manchmal sogar zum entspannten Kopfnicken einladend.

Für den Musiker ist dieses Album, "die Idee, dass Glück und Freude die höchste Form des Seins sind, dass sie das wahre Fundament des Überlebens bilden - und dass es die Welt heilen könnte, wenn wir uns selbst einfach ein bisschen weniger ernst nehmen". Das sind doch mal gute Nachrichten: Wenn selbst ein Justin Vernon heilen kann, dann ist die Hoffnung gross. (mia/spot)  © spot on news