Der ESC 2024 war geprägt von antiisraelischen Aktionen, einem Gewinner aus der Schweiz – und einem deutschen Vertreter, der weder auf dem letzten noch auf dem vorletzten Platz gelandet ist.
Das Ziel des Eurovision Song Contests lautete von jeher: Menschen zusammenbringen. Über Grenzen, Religionen und die Herkunft hinweg. Zur 68. Episode des hashtagtauglich gerne mit "ESC" abgekürzten Gesangs-Wettbewerbs findet sich zum Finale eine illustre Mischung junger Künstler aus 25 Ländern am Samstagabend im schwedischen Malmö ein. Der gerät trotz hehrer Absicht jedoch in eklatante Schieflage. Die konzeptionell als weitestgehend unpolitisch deklarierte Wohlfühl-Party steht beim Showdown in der Malmö Arena unter besonderer Beobachtung von Medien, Politik und Öffentlichkeit. Leider höchstens punktuell steht dabei Musik im Vordergrund.
Sowohl die Hoffnung, alle angereisten Schaulustigen vor Ort wären auch dieses Jahr wieder ausschliesslich glühende ESC-Fans, die sich jubelnd in den Armen liegen, als auch die, den internationalen Liederabend von politischen Statements und Forderungen fernhalten zu können, werden jäh enttäuscht. Als um 21 Uhr der Showabend beginnt, haben sich bereits tagelang sogenannte "Pro-Palästina-Demonstranten" zusammengerottet. Natürlich rein zufälligerweise direkt vor dem Hotel der israelischen Teilnehmerin Eden Golan.
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Der 20-jährigen Sängerin wird während ihrer Tage in Malmö aus Sicherheitsgründen radikale Hotel-Quarantäne verordnet. Sie muss von mehr als 100 Polizisten bewacht werden, weil der friedliebende Mob, dem es offiziell nicht um Golan, sondern um Kritik am Staat Israel geht, ihr nach dem Leben trachtet. Jede Fahrt vom Hotel zur Veranstaltungshalle und zurück wirkt wie ein Sicherheitskonvoi, wenn der US-Präsident durch Teheran fahren müsste.
Spätestens bei diesen Bildern wird allen, die den ESC noch durch die "Ein bisschen Frieden"-Vereinsbrille sehen, klar: Dieses Jahr wird alles anders. Meine Oma sagte immer "Hass macht hässlich". Nun bin ich keine grosse Freundin von Bodyshaming und hatte auch keine Zeit, die phänotypische Nähe der lautstark und teilweise gewaltbereit protestierenden Nahostexperten zur Optik von Supermodels zu analysieren.
Hass allerdings gibt es mehr als ausreichend während der Tage in Malmö – und schon lange vor dem Finale ist klar: Das diesjährige Motto "United by Music" wird sich ähnlich ostentativ umsetzen lassen, wie das Vorhaben "Meisterschaft 2024" beim FC Bayern München. Weniger wahrscheinlich, als dass am Ende der Nacht alle Fanlager harmonisch gemeinsam in den schwedischen Frühlingsnachthimmel tanzen, ist eigentlich nur noch, dass Volker Wissing zum erfolgreichsten Minister der bundesdeutschen Politikhistorie wird.
We Will Dance Again
Auf der einen Seite freuen sich Fans von Eden Golan, dass Israel bei einem Sieg den ESC 2025 auf dem Gelände des Supernova Musikfestivals ausrichten könnte. Das wäre ein weithin leuchtendes Statement in die Richtung aller Gruppierungen, die sich Terroranschläge auf israelische Zivilisten wie den vom 7. Oktober 2023 immer wieder wünschen würden.
Auf der anderen Seite fragen sich Israel-Kritiker, warum Eden Golan überhaupt beim ESC mitmachen dürfe, wo doch Israel gerade mindestens einen Genozid durchführe. Zur letzteren Gruppe gehört augenscheinlich auch der ARD-Kommentator Thorsten Schorn, der nach Golans Auftritt erklärt, es hätte auch Proteste gegen die Sängerin gegeben, "weil Russland vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde, Israel aber nicht".
Etwas unglücklich vielleicht, dass er dabei versehentlich vergass zu erwähnen, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine (wird am Ende übrigens Dritter) begonnen hatte, während Israel sich gegen Terrorattacken der Hamas verteidigt. Da zahlt man doch gerne 18,36 Euro Rundfunkbeitrag pro Monat. Klar wird dabei neben einer leicht antisemitisch angehauchten Grundatmosphäre im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk und der Frage, warum man eigentlich tendenziöse, selektive Kontextualisierung ungefragt mitfinanzieren muss, vor allem: Peter Urban ist nicht nur fachlich nicht zu ersetzen.
Als es in der Halle endlich losgeht, startet der Abend mit einem handfesten Schockmoment: Helene Fischer moderiert, die Nacht ist gelaufen. Eine kurze SMS an Florian Silbereisen später ist dann schnell klar: Das ist Malin Akerman, Schwedens Antwort auf Veronica Ferres. Die kündigt mit der Startnummer 1 direkt den Vertreter des Vorjahressiegers und Ausrichters, ihres Heimatlandes Schweden an. Einen gängigen, aber gleichzeitig unspektakulären Popsong später fragt man sich: Sollte das eine Abba-Revival-Popband sein, nur ohne Frauen? Ein neuerlicher Hinweis darauf, dass Annalena Baerbocks feministische Aussenpolitik versagt hat.
Kurz darauf geht mit der Startnummer 3 der in Minden geborenen Isaak als Deutschlands Grand-Prix-Hoffnung an den Start. Seit Lena Meyer-Landrut befinden wir uns als Nation in einem anhaltenden Sekundärwettbewerb, bei dem es nicht um den Sieg geht, sondern ausschliesslich darum, nicht Letzter zu werden. Zum Glück ist dieses Jahr Gate aus Norwegen dabei, der recht souverän die Rote Laterne erobert. Das Beste am deutschen Auftritt bleibt zunächst, dass Isaak Guderian als einer der wenigen Teilnehmer eine Hose trägt. Ein paar Stunden später wird er das Gesamtklassement als Zwölfter abschliessen und damit deutlich erfolgreicher abschneiden, als viele Experten es vorausgesagt hatten.
25 Acts für ein Halleluja
Wie es inzwischen beim ESC zur Tradition geworden ist, tauchen im Laufe der 25 Showacts einige skurrile Gestalten auf. Darunter beispielsweise die Irin Bambie Thug, die sich selbst als “nicht binäre Goth-Gremlin-Goblin-Witch” bezeichnet. Ja, so klingt dann auch ihr, naja, Song. Aus musikalischer Sicht scheint ihr der Contest aber ohnehin eher unwichtig zu sein. Sie ist offenbar in erster Linie angereist, um der Israelin Eden Golan ihren Hass entgegenzuschleudern. In die Notizbücher drama-affiner Journalisten jedenfalls diktierte sie, sie habe geweint, als Israel das Finale erreicht hatte. United by Music eben.
Der britische Vertreter Olly Alexander dagegen führt auf der Bühne ein Kunststück auf: Er bringt es fertig, aus dem Mutterland der Popmusik zu kommen, das bereits Legenden wie die Beatles, Elton John, Coldplay, Adele, David Bowie, die Rolling Stones oder die Spice Girls hervorgebracht hatte, und trotzdem chancenlos im unteren Drittel zu landen. Besser macht es der im Vorfeld haushoch favorisierte Beitrag aus Kroatien. Der Sänger Marko Purisic, der sich für die internationale Karriere den Künstlernamen Baby Lasagna zugelegt hat, casht in der Punktespielbank ordentlich ab und holt ungefährdet die Silbermedaille. Was genau ihn zum Namen Baby Lasagna bewogen hat, bleibt unklar. Ich kenne Fleischlasagne, Spinatlasagne und habe sogar mal eine Lachs-Lasagne gesehen. Kinder in ein Schichtnudel-Gericht einzubauen, scheint ein Trend zu sein, der Kroatien bislang glücklicherweise nicht verlassen hat.
Während die Bühnendramatik vor allem daraus besteht, eine Renaissance der Strobo-Lichter aus den
Grossraumdiscos der 90er-Jahre einzuleiten, suggeriert der finnische Act Windows95Man, er stände untenrum frei auf der Bühne. Der Skandal bleibt aus, der Bill-Gates-Fan wird abgeschlagen Neunzehnter. Sex sells eben doch nicht immer. Luxemburg dagegen schickt mit Tali eine Sängerin ins Rennen, für deren Bühnenoutfit 423 Leoparden sterben mussten. Ein solcher Verstoss gegen die ungeschriebenen ESC-Tierschutzgesetze wird mit einem unsexy dreizehnten Platz honoriert.
Als die 25 Darbietungen überstanden sind, fährt das Gastgeberland traditionell noch mal alles popkulturelle auf, was man in der eigenen Heritage zu bieten hat. Da ist Schweden musikhistorisch auf Rosen gebettet. Vom singenden Zahnarzt Dr. Alban über Roxette, Avicii, die Cardigans, Ace of Base und den Rednex bis hin zu Europe verfügt Schweden in allen Genres über deutlich mehr musikalisches Potenzial als vergleichbar grosse Länder. Oder kennen Sie etwa einen Weltstar aus Papua-Neuguinea, Tadschikistan, Honduras oder dem Südsudan?
Winner, Winner, Nemo Dinner
Am Ende singt die Kultband Alcazar, die sich eigentlich bereits 2018 aufgelöst hatte, überraschend noch mal ihren grössten Hit "Crying at the Discotheque". Abba stehen anschliessend ebenfalls auf der Bühne, allerdings lediglich als KI-animierte Avatare. Als auch diese bizarre Tortur überstanden ist, beginnt die langwierige Punktevergabe-Zeremonie. Zunächst werden hintereinander alle teilnehmenden Länder zugeschaltet, um sich brav für die fantastische Show zu bedanken und die Jury-Ergebnisse zu verkünden. Dabei gehen richtungsweisend die ersten 12 Punkte des Abends an Nemo aus der Schweiz. Schon Minuten vor dem Ende der Auszählung ist klar: Deutschland wird sensationeller Zwölfter. Für uns als Land, das 1964, 1965, 1974, 1995, 2005, 2008, 2015, 2016, 2022 und 2023 Letzter wurde und dabei dreimal sogar vollkommen punktelos blieb, im Grossen und Ganzen wie ein Sieg.
Aus Transparenzgründen sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ich als Autorin dieser ESC-Beobachtungen am Tag des Finales auf Social Media intensiv dafür geworben habe, für Eden Golan abzustimmen. Eine 20-jährige, die isoliert im Hotelzimmer sitzt, während unter ihrem Fenster ein antisemitischer Mob von Genoziden halluziniert und sie derartig bedroht, dass sie aus Sicherheitsgründen mehreren Proben fernbleiben muss, nur weil sie zufällig in einem Land geboren wurde, das weltweit wie kein zweites gehasst wird, hat meine Sympathien. In der deutschen Zuschauer-Abstimmung holt Eden Golan den Sieg – mehr konnte ich von hier aus nicht machen.
Um 00:48 Uhr verkündet das Helene-Fischer-Double Malin Akerman dann das amtliche Endergebnis: Eidgenosse Nemo holt mit seinem halb gesungenen, halb gerappten Song „The Code“ den Sieg für die Schweiz. Im Siegertitel, das verrät Nemo den qualifizierten Fachjournalisten und Thorsten Schorn, geht es darum, "aufzustehen für die ganze LGBTQIA+-Community, sich nicht wie ein Mann oder eine Frau zu fühlen und ein paar Codes aufzubrechen". Im Prinzip auch das offizielle Credo des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Als Nemo sichtlich gerührt und überwältigt nochmals seinen Siegertitel anstimmt, ist der niederländische Vertreter Joost Klein nicht in der Halle. Klein war wenige Stunden vor Beginn der Show suspendiert worden, nachdem die schwedische Polizei Ermittlungen aufgenommen hatte, weil Klein angeblich handgreiflich gegen eine Produktionsmitarbeiterin geworden sein soll.
Was bleibt vom ESC in Malmö?
Was vom ESC-Abend in Malmö bleibt, sind einige Denkanstösse für die Zukunft. Vor allem müssen die Veranstalter sich sehr dringend die Frage stellen, ob der ESC in der heutigen Zeit wirklich komplett unpolitisch bleiben kann und sollte. Musik war immer auch ein Ventil zur Auseinandersetzung mit politischen Problemen und Entwicklungen. Warum sollte man diese gesellschaftlichen Aspekte ignorieren, nur um das Scheinbild einer glücklichen, unbeschwerten Singsang-Familie aufrechtzuerhalten, das spätestens nach dieser Saison ESC nicht mal mehr im Ansatz glaubwürdig erscheint?
Das berühmte Licht am Ende des Tunnels bleibt uns jedoch. Nino de Angelo sang einst "Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind, dann sind wir Jenseits von Eden". Jenseits von Eden Golan wird der kommende ESC in der Schweiz ausgetragen. Ein vermeintlich neutrales Pflaster. Vielleicht eine gute Umgebung, um den Eurovision Song Contest einer Art Realitätscheck zu unterziehen und daraus anschliessend die richtigen Reformschlüsse zu ziehen. Und wer weiss, eventuell gelingt es dann 2025, Musik zu einer Brücke und nicht zu einem Lagerkampf der Ideologien werden zu lassen.
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