Kalush Orchestra aus der Ukraine haben den Eurovision Song Contest 2022 in Turin gewonnen. Vor allem die Stimmen der Zuschauer haben ihnen zum Sieg verholfen. Also alles gut? Ein Zeichen gesetzt und fertig? Ganz so einfach ist es nicht.

Christian Vock
Eine Kritik
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Es war eigentlich nie die Frage, ob der Überfall Russlands auf die Ukraine beim ESC-Endentscheid eine Rolle spielen würde, sondern nur wie. Denn er spielte schon eine Rolle, noch bevor der erste Ton in Turin gesungen war. Die eigentliche Siegerin, Alina Pash, stand wegen uneindeutiger Reisedokumente auf die Krim in der Kritik und verzichtete Mitte Februar auf ihre Teilnahme, so dass die Zweitplatzierten, Kalush Orchestra, nachrutschten.

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Kurz nach dem Angriff am 24. Februar 2022 entschied dann die Europäische Rundfunkunion EBU, Russland vom ESC auszuschliessen. Im Halbfinale buchten Kalush Orchestra ihr Ticket fürs Finale und so wurde die Frage dann noch konkreter, wie der ESC am Samstag mit dem Krieg in der Ukraine umgehen würde.

Die schnelle Antwort: von Anfang an. Mitten in Turin hat sich die riesige Band Rockin’ 1000 aus Hunderten Schlagzeugern, Sängern und Gitarristen formiert, die alle den Friedensklassiker „Give Peace a Chance“ spielen und singen. Nicht die ganz grosse Gänsehaut, aber ein erster Schauer, vor allem, als die Kamera aus Turin in die ESC-Halle schwenkt und die Zuschauer dort weitersingen. Einen „ganz besonderen ESC in aussergewöhnlichen Zeiten“, ahnt Kommentatoren-Legende Peter Urban da voraus.

Kalush Orchestra bitten um Hilfe für die Ukraine

Davon ist dann aber erst einmal nichts zu sehen. Denn der eigentliche ESC startet wie ein ESC eben so startet. Die Moderatoren des Abends Laura Pausini, Mika und Alessandro Cattelan begrüssen die Zuschauer in aller Welt, dann folgt der Einzug der Sängerinnen und Sänger. Nun ist es schwer zu beurteilen, wenn man nicht selbst in der Halle vor Ort ist und vielleicht wünscht man es sich auch nur, aber wenn man möchte, konnte man beim Erscheinen des Kalush Orchestra ein bisschen mehr Applaus hören, als bei den anderen Länder – vom Gastgeberland Italien einmal abgesehen.

Und dann? Nichts. Bis zum Auftritt von Kalush Orchestra ist es weiterhin ein ganz normaler ESC-Abend. Ein Auftritt folgt dem anderen, das Moderationstrio macht seine Spässe, die Show läuft durchchoreographiert wie in all den Jahren zuvor. Eine Botschaft, eine Gedenkminute für die Opfer – der Krieg in der Ukraine findet beim Eurovision Song Contest in Turin nicht statt. Zumindest in der offiziellen Organisation nicht.

Der deutsche Vertreter, Malik Harris, wird später, als er kurz zur Aftershow-Party in Hamburg zugeschaltet ist, Barbara Schöneberger die offizielle Vorgabe bestätigen, nachdem die Künstler keine Statements abgeben sollen. Aber: Wer sollte es denn verhindern? Und so sind es Kalush Orchestra selbst, die den Anfang machen und nach ihrem Auftritt an die Zuschauer appellieren, der Ukraine und besonders den Menschen in Mariupol zu helfen.

Malik Harris mit Friedensbotschaft

Auch Malik Harris will an diesem Abend nicht nichts sagen und hat auf der Rückseite seiner Gitarre eine Botschaft aufgeklebt, die er nach seinem Auftritt in die Kameras hält. „Peace“ steht dort in weissen Buchstaben, im Hintergrund die Farben der Ukraine. Die drei Schwestern von Systur aus Island haben kleine ukrainische Flaggen auf ihre Instrumente geklebt und rufen ein „Peace for the Ukraine“ ins Publikum.

Es sind also die kleinen Botschaften der Teilnehmer, die einen daran erinnern, dass es eben kein ESC ist, wie jeder andere. Peter Urban meint irgendwann mitten in der Veranstaltung bezogen auf das Motto des diesjährigen ESC: „Es könnte auch heissen: The Sound of Peace“. Tut es aber nicht. Man ist bei „The Sound of Beauty“ geblieben – warum auch immer. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, auch von offizieller Seite hier ein Zeichen zu setzen.

Man hätte auch ohne Probleme einen der Programmpunkte weglassen können, um irgendetwas zu tun. Stattdessen merkte man der durchchoreographierten Veranstaltung an, wenn sie sich auf Terrain begab, auf dem sie nicht alles unter Kontrolle hat. So streifte Moderator und Sänger Mika, wie es beim ESC üblich ist, durch die Teilnehmer, um ein kleines Stimmungsbild einzufangen. Als er bei Kalush Orchestra ankommt, begrüsst er sie mit freundlichen Worten, ist aber dann sichtlich unsicher, ob und wie er sie zu Wort kommen lässt. Er gibt dann lieber ab an den nächsten Auftritt.

Warum der ESC mehr als „Give Peace a Chance“ hätte sein können

Nun kann man sicher Gründe finden, warum der Krieg gegen die Ukraine in der offiziellen Planung eine so untergeordnete Rolle gespielt hat. Da wäre zum einen das Gebot der Fairness, auf das die Moderatoren während der Show noch selbst hinweisen. Das ist auch nachvollziehbar, denn wenn man sich dazu entschliesst, auch in diesem Jahr den ESC als Wettbewerb auszutragen, dann ist es nur schlüssig, wenn niemand einen Vorteil haben darf.

Zum anderen gibt es da auch noch die Sicht des veranstaltenden Landes. Jede Siegernation ist stolz, den Song Contest im Jahr darauf ausrichten zu dürfen und das eigene Land im eigenen Land präsentieren zu können. Wer weiss, wann man das nächste Mal gewinnt und wieder die Gelegenheit dazu hat? Eine egoistische Begründung und ob sie greift, kann nur der Veranstalter selbst beantworten, aber es ist eine Begründung. Aber ist es auch eine gute?

Ganz und gar nicht. Denn so schön, bunt, laut und imposant die Show auch war – erinnern Sie sich noch an die Show von 2008? Von 2014? An die letzte? Der ESC ist inzwischen in jedem Land und in jedem Jahr eine professionelle Mega-Show, bei der es schwerfällt, Unterschiede zu erkennen. Da wäre es – auch aus egoistischer Sicht – doch besser gewesen, die Show einmalig zu machen, indem man ein Zeichen setzt. Dann wäre man die Show gewesen, die mehr als nur ein obligatorisches „Give Peace a Chance“ zustande bringt. Wenn schon Haltung zeigen, dann richtig – und wenn es nur aus egoistischen Motiven ist.

ESC 2022: Irgendetwas zu tun, ist besser als nichts zu tun

Aber was hätte man denn machen sollen? Eine berechtigte Frage. Die Antwort ist einfach: egal. Natürlich wäre es eine Herausforderung gewesen, die Partyveranstaltung, die der ESC nun einmal ist, angemessen mit dem Krieg gegen die Ukraine zu verbinden und dabei gleichzeitig noch den Wettbewerb, der der ESC auch ist, beizubehalten. Aber nur, weil etwas eine Herausforderung ist, heisst es nicht, dass man sie nicht annehmen darf. Irgendetwas zu tun, ist besser als nichts zu tun.

Doch hätte das nicht die Fairness der Show gefährdet? Vermutlich. Auf der anderen Seite: Die Menschen sind ja nicht blöd. Nur weil der Krieg gegen die Ukraine in der Show keine offizielle Erwähnung findet, gibt es ihn ja trotzdem. Und mit ihm haben die Menschen eine Haltung dazu. Aber was ist mit der politischen Neutralität? Die hatte man beim Song Contest bereits aufgegeben, als man Russland – zu Recht – ausschloss. Zur Erinnerung: Gerade bombardiert ein ESC-Land ein anderes ESC-Land. Wie soll der ESC selbst da neutral bleiben? Und wenn man schon nicht neutral ist, warum dann nicht auch ein Zeichen setzen?

Die Menschen in Europa haben verstanden

Dieses Zeichen haben dann nicht die Veranstalter, sondern die Menschen in Europa gesetzt. Nun war der Beitrag von Kalush Orchestra alles andere als schlecht. Er war sogar sehr gut. Und man kann immer spekulieren, aus welchen Gründen die Menschen für welchen Teilnehmer abstimmen. Aber es ist naheliegend und einleuchtend, dass der Wunsch nach Solidarität ein Grund war, warum die Ukraine durch das Zuschauervotum einen so immensen Zuspruch erhalten hat, dass es am Ende zum Sieg gereicht hat.

„Eine starke Demonstration aus Europa in die Ukraine“, will Peter Urban darin erkannt haben und schliesst dann: „Obwohl es vielleicht einen Mann nicht beeindruckt.“ Das mag gut sein. Aber bei einer Botschaft für die Ukraine geht es nicht darum, was der Kriegstreiber im Kreml denkt. Darum sogar am allerwenigsten. Es geht darum, was die Menschen denken, denen er Bomben schickt. Dass sie wissen, dass sie nicht alleine sind. Die Veranstalter haben das übergangen. Die Menschen in Europa nicht.


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