Noch nie hat wohl ein Gesangswettbewerb so viel Trubel verursacht wie der Eurovision Song Contest (ESC) 2014. Mit dem Sieg des Transvestiten Conchita Wurst aus Österreich begannen europaweite Diskussionen - von grenzenloser Empörung bis zum "Sieg über Vorurteile".

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Unter den besten Postings im Netzwerk Twitter, den sogenannten Twitter-Perlen, findet sich folgende von thesismum: "Ja!!! Heute rotiert der Führer in seiner Asche. 12 Punkte aus Israel für einen österreichischen Transvestiten." Mit seinem Titel "Rise Like A Phoenix" gewann Tom Neuwirth – wie er eigentlich heisst – zum zweiten Mal den Schlagerwettbewerb für Österreich. In seiner Heimat feierte man nicht nur den Sieg, sondern auch das damit verbundene Zeichen der Toleranz. Denn sein Künstlername ist eine politische Aussage, wie er dem "Kurier" sagte: "Am Ende des Tages ist es einfach wurst, wie man aussieht und woher man kommt, weil einzig und allein der Mensch zählt." Und Conchitas Statement nach dem Sieg lautete: "Diese Nacht ist allen gewidmet, die an die Zukunft von Frieden und Freiheit glauben."

Aufschrei nach Freiheit

"Österreich ist toleranter geworden", freute sich ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz. Und Vizekanzler Michael Spindelegger nannte die künstlerische Darbietung der langhaarigen Frau mit dem Vollbart "herausragend". Vor ihr hatte zuletzt Udo Jürgens 1966 den Grand-Prix für die Alpenrepublik gewonnen. "Europa hat viel Toleranz gezeigt", sagte er der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Vor allem habe er sich über die Höchstpunkteanzahl aus katholischen Ländern wie Spanien und Irland gefreut, von denen er es wirklich nicht erwartet hätte. "Mir kam das vor wie ein Aufschrei nach Freiheit." Ähnlich bewerteten viele grosse europäische Zeitungen den Erfolg. "Conchita Wursts Triumph ist ein Sieg im Europa der Toleranz und des Respekts, wie auch der österreichische Kulturminister Josef Ostermayer kommentiert hat", schrieb die italienische La Republica. "Österreichs Conchita siegt über Vorurteile", kommentierte der britische Guardian. Die "Aftenposten" aus Oslo freute sich: "Eine Ohrfeige für alle Homophoben in Europa".

Hinter dem Bart eine Botschaft der Toleranz

Spaniens grösste Tageszeitung "El Pais" bemerkte: "Sieg der Übertretung. Die Österreicherin Conchita Wurst gewinnt mit einer intensiven, klassischen Ballade Eurovision 2014." Die konservative "ABC", ebenfalls aus Spanien, kommentierte: "Konstante Verteidigerin des Respekts und der Anerkennung. Eine Schlacht, die sie sogar während der Eurovision kämpfen mussten, da verschiedene Vereinigungen in osteuropäischen Ländern ihre jeweiligen staatlichen Fernsehsender aufforderten, Conchitas Auftritt zu boykottieren (...) hinter diesem Bart steckt eine Botschaft der Toleranz."

Die von "ABC" angesprochenen Reaktionen speziell in Russland dagegen fielen derb aus. Konservative Politiker und Kirchenkreise wetterten schon im Vorfeld des ESC, dass dessen Übertragung "eine eindeutige Propaganda für Homosexualität und geistliche Verderbnis" sei. Und nach dem Sieg Wursts twitterte Vizeregierungschef Dmitri Rogosin dies zeige "Anhängern einer europäischen Integration, was sie dabei erwartet – ein Mädchen mit Bart". Noch heftiger wurde der Nationalist Wladimir Schirinowski. Es sei ein Fehler gewesen, Österreich freizugeben, sagte er in Anspielung auf die Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. "Unsere Empörung ist grenzenlos, das ist das Ende Europas", sagte er im russischen Fernsehen. "Da unten gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern stattdessen ein Es."

Begräbnis traditioneller Werte

An der Propaganda beteiligte sich auch ein Sprecher des Fernsehsenders "Rossija": "Das ist ein Requiem auf Europa, das ist das Begräbnis traditioneller Werte." Zugleich wurde das Thema im aktuellen Ukraine-Konflikt instrumentalisiert. So tauchten in sozialen Netzwerken Fotomontagen von Julia Timoschenko mit Bart auf, russische Duma-Abgeordnete teilten eine Fotomontage führender ukrainischer Politiker mit Wurst. Bildunterschrift auf ukrainisch: "Wir sind eine europäische Familie."

Selbst in Österreich machten konservativ kirchliche Kreise massiv Front gegen den Transvestiten. So schrieb die Internetplattform "katholisches.info", die Vertrottelungsstrategen aus Medien- und Kluturbetrieb hätten zur "Förderung der Homosexualität" Tom 'Conchita Wurst' Neuwirth zum diesjährigen österreichischen Vertreter beim European Songcontest erkoren. Und die Autorin zitiert den Kabarettisten Alf Poier: "Wenn jemand nicht weiss, ob er ein Manderl oder ein Weiberl ist, dann gehört er eher zum Psychotherapeuten als zum Songcontest."

Zur Zurückhaltung rief die "Süddeutsche Zeitung" auf: Was der Sieg Wursts bedeute, werde sich erst zeigen, "wenn alle Wortwitze über den Namen gemacht sind, wenn jede Frau sich einmal einen Bart angeklebt hat, wenn sogar bärtige Männer sich einen Bart angeklebt haben". Und auch die "Salzburger Nachrichten" dämpften die Siegeseuphorie im Land der Berge und Dome. In Fragen sexueller Ausrichtung erweise sich der Erfolg als Aufbruch in eine bestehende Realität. "Von einem Triumph der Weltoffenheit zu reden, birgt Gefahr, ja scheint voreilig." Der Popkultur werde beim ESC die Bürde auferlegt, eine Speerspitze für europäische Grenzenlosigkeit und menschliche Grundwerte zu sein, gar Frieden stiftende Wirkung zu haben, "bloss weil für einen Abend banaler Popmusik Zigmillionen europaweit vor der Glotze alles andere vergessen können".

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